Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
im Tagesgeschäft kaum noch Feuereifer für ein Thema entwickeln können. Verkehrsunfälle, Bankraube und Schießereien im Kiezmilieu kamen mir im Vergleich geradezu banal vor. Ich wechselte in die Rathausredaktion und wurde landespolitischer Korrespondent. Beruflich war das ein Sprung, der mich wie Koks aufdrehte. Wieder stürzte ich mich in die Arbeit. Tödliches Gift für meine Ehe. Ein weiteres Jahr später war meine Frau drauf und dran, sich von mir zu trennen. Auch wenn ich nicht mit heißem Herzen um sie kämpfte, zu sehr hatten wir uns auseinandergelebt, belastete mich die Situation. Die Vorstellung, meinem Sohn vielleicht schon bald kein Zuhause mit Mama und zumindest ab und an auch Papa unter einem Dach mehr bieten zu können, löste Beklemmungen aus. Alexandra schlug mir vor, unsere zerfahrene Situation mit Mediatoren zu besprechen. Die meisten Versuche, dies allein miteinander hinzukriegen, hatten zu einem Gewitter gegenseitiger Vorwürfe geführt. Ich verstand ihren Vorschlag als letzte Chance und ließ mich darauf ein. Die begleiteten Gespräche zeigten nach wenigen Stunden, dass es keine stabile Basis für ein weiteres Miteinander mehr gab. Schon bei unserem zweiten Treffen sprachen wir darüber, wie eine Trennung aussehen könnte.
Im Büro wollte ich mir keine «private Krise» nachsagen lassen, die einen Durchhänger hätte entschuldigen können. Ich wollte, dass mich die anderen weiter am Limit arbeiten sahen. Volle Pulle, jeden Tag das Maximale geben. Das gab mir den Kick, mit dem ich traurige Gedanken an den Murks zu Hause verdrängte – das und die Tatsache, dass ich kurz darauf wieder zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, als sich einer der größten Skandale der Hamburger Politikgeschichte ereignete. Der bundesweit bekanntgewordene Innensenator Ronald Barnabas Schill, den die Hamburger Morgenpost einst «Richter Gnadenlos» getauft hatte, outete den Ersten Bürgermeister Ole von Beust als schwul und dichtete ihm ein Verhältnis mit seinem Justizsenator an. Von der Pressekonferenz, in der von Beust den amoklaufenden Schill aus dem Senat warf und damit die Regierungskoalition platzen ließ, durfte ich berichten. Das erste Interview am nächsten Tag gab Schill mir und meinem Lieblingsfotografen. In solchen Momenten liebte ich meinen Job noch mehr. Die bedingungslose Bereitschaft, ihm alles andere unterzuordnen, stellte ich gerade in solchen Momenten kein bisschen in Frage.
Schon die Frage meines Chefs, ob ich nicht ab und an mal länger als nur einen oder zwei Tage freinehmen wolle, erschien mir deshalb absurd. Pausieren hätte bedeutet, für eine Zeit auf den Kick zu verzichten. Das wollte ich auf keinen Fall.
Hatte ich einen Tag lang frei, was selten geschah, beschlich mich die Sorge, ich könne etwas verpassen, eine große Geschichte könne ohne mich stattfinden. Also ließ ich auch in meiner Freizeit den Polizeifunk eingeschaltet, nahm meinen Feuerwehr-Pieper überall mit hin. Er meldete, wenn irgendwo etwas Größeres passiert war.
Um der immer massiveren körperlichen und seelischen Belastung von Beruf und Beziehungschaos standzuhalten, fing ich schließlich an zu laufen. Von einem auf den anderen Tag bin ich losgerannt. Das hat mir den Kopf durchgepustet und mich entlastet, jedes Mal ein bisschen, und es sorgte dafür, dass ich mich ausgeglichener, zufriedener fühlte. Beim Laufen spürte ich die Anspannung und den Druck, unter den ich mich für den Erfolg im Büro setzte, mehr als jemals zuvor. Ich hatte das Gefühl, als müsse ich Knoten lösen, um die Kraft zum Laufen aufzubringen. Als verbiete es mir meine Disziplin, in etwas anderes als die Arbeit Energie zu investieren. Jeder Schritt, den ich lief, befreite mich von dieser Blockade ein bisschen mehr.
Nach vier Monaten habe ich mich durch einen Halbmarathon gequält – wieder war da der Ehrgeiz, wieder Druck, den ich mir selbst machte. Ich brauchte ein Ziel, eine Herausforderung. Nachdem ich mich ihr gestellt, mittendrin fast aufgegeben, dann aber ungeahnte Kräfte mobilisiert hatte, verlor ich den Antrieb weiterzumachen. Ein paar Monate lief ich noch, von Woche zu Woche weniger, irgendwann gar nicht mehr. Ich glaubte, ich bräuchte die Bewegung als Ausgleich nicht mehr. Der Kick des Erfolgs und der Bestätigung blendeten mein Gespür für die Notwendigkeit aus, mir ein Gegengewicht zur Dauerbelastung zu erhalten.
Mit meiner Frau lebte ich inzwischen wie in einer WG. Sie hatte mir ein paar Monate zuvor eröffnet, dass sie in
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