Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
wie ich auf meine alten Kumpels gewirkt haben muss: besessen. Als Workaholic zu gelten, fand ich cool. Ich liebte meine kleinen Erfolge, den Einfluss, den ich mit meinen Artikeln bekam, und das Gefühl, gebraucht zu werden. Mein Ego machte Sprünge. Warum sollte es da verkehrt sein, was ich tat?
Die alten Freundschaften rückten noch mehr in den Hintergrund, als ich mich 1998 in eine Kollegin aus der Redaktion verliebte. Sie war erst wenige Wochen bei uns, als wir zusammenkamen. Rauschhaft verbrachten wir Tag und Nacht miteinander. Nach sechs Wochen redeten wir übers Heiraten, nach drei Monaten über ein Kind. Vier Wochen später war Alexandra schwanger, als sie im fünften Monat war, feierten wir Hochzeit.
Ein Jahr nach Samys Geburt, im Oktober 2000, wechselte ich in die Großstadt. Die Hamburger Morgenpost hatte mir in genau der Woche ein Angebot gemacht, in der ich angefangen hatte, mich um einen neuen Job nach dem Volontariat zu bemühen. Gern wäre ich direkt zur BILD gegangen. Den Redaktionsleiter der Hamburg-Ausgabe kannte ich von der Ausbildungsakademie. Ich schickte ihm eine Bewerbung. Als ich vier Wochen später noch nichts gehört hatte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und rief ihn an. Er erinnerte sich an mich, konnte mir aber nichts anbieten, es sei keine Stelle in der Lokalredaktion frei. So wurde ich Polizeireporter bei der zweiten Boulevardzeitung am Platze, der Hamburger Morgenpost . Ein in den fünfziger Jahren von der SPD gegründetes Blatt, einzige Nicht- Springer -Zeitung der Stadt.
Vor dem neuen Job hatte ich Riesenrespekt. Ich stellte mich darauf ein, bei null anzufangen. Alles war viel größer als in der Provinz. Die Auflage sechsmal so hoch, statt aus Elmshorn und Klein Offenseth-Sparrieshop berichtete ich aus der zweitgrößten Metropole Deutschlands. Als Polizeireporter hatte ich schon im Volontariat beim Pinneberger Tageblatt gearbeitet. In keinem anderen Ressort lernt man besser zu recherchieren, sich ein Netzwerk aus Informanten aufzubauen und sich im Konkurrenzkampf durchzusetzen. Je härter das Thema wurde, je schneller es gehen musste, je weiter wir die anderen Zeitungen vorn glaubten, desto ehrgeiziger wurde ich.
Ich besorgte Opferfotos von der trauernden Verwandtschaft, fotografierte Tote unter Leichentüchern, zerquetschte Autos, brennende Häuser, verhaftete Zuhälter und gefasste Mörder. Ich schrieb Schicksalsschläge auf, recherchierte im Rotlichtmilieu, traf den angeblichen Paten Hamburgs zum Pizzaessen. Draußen vorm Restaurant saßen zwei Zivilfahnder in ihrem grauen VW Passat und beobachteten uns durchs Fenster. Ich lernte die Macher und Ikonen des Nachtlebens kennen und bin manchmal erst morgens nach Hause gekommen. Wieder arbeitete ich in einem kleinen Team. Kampf um Platz und Themen im Blatt gab es fast nie. Jeder wurde gebraucht. Ich kam mit den meisten Kollegen gut klar. Manche Redaktion gleicht einem Haifischbecken, unsere glich eher einer Großfamilie. Im Nachhinein war ich froh darüber, nicht gleich bei BILD gelandet zu sein. Bei der Mopo hatte ich die Freiheit zu üben. Meine Artikel hatten nicht die Wirkung wie Geschichten in BILD , dafür flog einem auch nicht jeder Fehler, den man machte, um die Ohren. Die interne wie externe Aufmerksamkeit und Kontrolle waren viel geringer. Die Zeitung war mein Trainingscamp.
Von meinem Sohn bekam ich nicht viel mit zu jener Zeit. Meine Frau verstand einerseits meine Begeisterung für die Arbeit, sah meine Chancen und wusste aus eigener Erfahrung das Gefühl von Bestätigung für gelungene Artikel zu schätzen. Andererseits spürte sie, wie ich abdriftete. Zwischen uns öffnete sich eine Schere, zunächst kaum spürbar, dann immer krasser. Sie wollte nach der Elternzeit nicht wieder zurück zum Journalismus, sondern etwas Neues ausprobieren. Ich hingegen konnte mir nichts Besseres vorstellen als Zeitungmachen. Auf unseren kleinen Sohn war ich unglaublich stolz. Ich fand es toll, junger Vater zu sein, und erzählte in der Redaktion oft davon. In der Arbeit half es mitunter, wenn ich bei der Recherche anderen Eltern begegnete und erwähnte, dass auch ich ein Kind habe. Die wenige Zeit, die ich mit Samy verbrachte, waren die friedlichsten und ruhigsten Momente, an die ich mich erinnere. Ich genoss diese Oasen und war trotzdem meist nicht zu Hause. Manchmal hatte ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Am heftigsten plagte es mich, wenn ich abends mit Kollegen in der Kneipe saß. Alexandra und ich lebten immer mehr in
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