Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
größter Zeitung war. Ich bin mir sicher, dass es mir in ähnlicher Funktion in einem anderen Verlag nicht anders ergangen wäre. Wahrscheinlich wäre es mir sogar in einer ganz anderen Branche passiert. Auf jeden Fall überall dort, wo Tagesaktualität die Agenda bestimmt. Da, wo die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass genau der Tag hektisch wird, der noch morgens locker zu werden versprach.
Der Antrieb ist bei allen gleich, egal, ob Chef oder Azubi: Jeder will geliebt werden, fachlich anerkannt, menschlich geschätzt, und er will im Team eine wichtige Rolle spielen. Gerade Führungskräfte haben oftmals ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Zuspruch.
Ich würde derzeit nicht für das doppelte Gehalt zurück auf meinen Posten gehen. Was ich erlebt habe, möchte ich nicht missen. Ich möchte es aber auch nicht noch mal erleben. Nicht so zumindest. Noch einmal so, und ich sterbe, bevor ich sechzig werde. Die unaufhörlich mahlende Boulevardmühle würde mich zerdrücken. Ich liebe Extreme, ich suche mir gern Herausforderungen. BILD war eine extreme Herausforderung. Ihr habe ich mich gestellt, das habe ich nie bereut. Aber ich fühle mich freier, echter, lebendiger, seit ich gekündigt habe.
Mein Ausstieg aus dem Hochleistungsjob bei voller Fahrt ist einer der größten Brüche in meinem Leben. Mehr als fünfzehn Jahre ging es rasant nach vorn. Lange dachte ich, es müsse so sein, ich sollte dankbar sein, diese Karriere machen zu können. Tatsächlich habe ich viel mehr erreicht, als ich es auch nur ansatzweise vermutet hätte, als ich 1996 in der Hamburger Provinz auf meine erste Recherche zur Schließung der Rettungswache geschickt wurde. Allerdings habe ich mir meine Erfolge hart erarbeitet und teuer bezahlt.
In Amerika und Westeuropa, das haben Untersuchungen gezeigt, bezeichnen sich mittlerweile mehr als zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung als gestresst, Tendenz steigend. Die Behandlung stressbedingter Krankheiten wie Depression oder Herzinfarkt verursacht Folgekosten für die Krankenkassen in Milliardenhöhe. Der volkswirtschaftliche Schaden durch Ausfälle ausgebrannter Erwerbstätiger soll allein in den USA mehrere hundert Milliarden Dollar betragen.
Bei uns gilt heute derjenige als idealer Mitarbeiter, der immer zur Verfügung steht, der nie krank ist, der am besten keine Kinder hat, der auch keine Kinder will, der alles Private hintanstellt. Gefördert und befördert werden Arbeitsmaschinen. Von denen überdrehen zu viele, laufen heiß, fallen aus und müssen ersetzt werden. Das ist schlecht fürs Unternehmen und schlimm für den Mitarbeiter. Die Entwicklung ist ein gesellschaftliches Problem. Uns mangelt es an Respekt vor dem Bedürfnis nach Ausgleich, Grenzen, privaten Ruhezonen, zu denen die Firma keinen Zutritt hat. Wer sich nur noch mit Kollegen, seinem Unternehmen und dessen Produkt oder Dienstleistung beschäftigt, glaubt irgendwann, dies sei der Nabel der Welt, nichts anderes zähle mehr.
Die Gestressten erlauben sich keine Auszeit, sie empfinden das als Betrug an ihrem Job. Sie glauben, sie würden den Erwartungen in dem Moment nicht gerecht, in dem sie sich vorsätzlich mit etwas anderem beschäftigen als mit beruflichen Themen. Sich einen frühen Feierabend zu organisieren, um mit Freunden ins Kino zu gehen, ist für sie wie Fremdgehen in einer Beziehung. Und wenn sie sich dennoch mal hinreißen lassen, weil das Bedürfnis nach Ausbruch sich absolut nicht mehr unterdrücken lässt, haben sie dabei ein schrecklich schlechtes Gewissen. Sie werden es deshalb nicht so schnell wieder tun.
Die Stressresistenten hingegen schaffen es scheinbar spielend, den Anspruch ihrer dienstlichen Aufgaben ordentlich zu erfüllen und ihrem Bedürfnis nach Leichtigkeit gleichermaßen gerecht zu werden. Die genehmigen sich den Gegenpol. Sie sagen: Gehe ich nicht dreimal die Woche ins Fitness-Studio, werde ich im Büro unausstehlich . Oder: Sehe ich eine Woche lang meine beste Freundin nicht, um über unsere Alltagsprobleme zu reden, bin ich im Job nicht mehr so belastbar . Sie wissen, dass ihre Leistung abnimmt, wenn sie sich nicht um einen regelmäßigen Ausgleich kümmern. Die Gestressten wissen das auch, aber sie haben sich angewöhnt, das Verlangen nach Balance in ihrem Leben kleinzuhalten. Sie sind Meister darin, das Verlangen zu unterdrücken, es zu ignorieren, es sofort zurück in seine Höhle zu jagen, wenn es wagt, sich zu zeigen. Erst wenn sie doch mal Abstand gewinnen, merken die Betroffenen, wie klein
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