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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Onken
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    Ich versuche, Zeitung zu lesen, und kann mich nicht konzentrieren. Ich werde grummelig. Plötzlich ist die Euphorie weg. Jetzt fühle ich mich schwach, habe Angst vor diesem Tag. Verdammt noch mal, warum denn das? Ich habe es doch in der Hand! Ich bin derjenige, der gehen will! Was soll denn bitte passieren, schlimmstenfalls? Mir fällt einiges ein: Der Herausgeber könnte mich nicht verstehen, meine Beweggründe nicht nachvollziehen. Vielleicht versteht er meine Kündigung als Liebesentzug, sieht mich von seiner Fahne flüchten. Das wäre schrecklich für mich. Das ist, wie nicht mehr gemocht zu werden.
    Als ich mittags am Hamburger Hauptbahnhof in den ICE nach Berlin steige, bin ich etwas relaxter. Ich habe die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass mein Chef mich nicht versteht. Sie ist: sehr gering. Er ist ein Mensch mit Knochen, Haut, Haaren, Launen und Gefühlen. Auch wenn das manche, die ihn nicht kennen, anders sehen. Also wird er sich in mich hineinversetzen können. Er liebt Ecken, Kanten, Brüche. Ich habe einen Bruch im Gepäck.
    Zweieinhalb Stunden später betrete ich den Verlag und gehe davon aus, dass ich dies das letzte Mal als Redaktionsleiter tue. Ich fahre in den sechzehnten Stock, die Bürochefin begrüßt mich, ich warte im Büro des Herausgebers und gucke auf Berlin. Komische Stadt. Hier in Kreuzberg komme ich mir vor wie irgendwo tief im Osten. Ich war mal in Krakau, da sieht’s ähnlich aus. Industriebaracken, zugewucherte Brachflächen, die meisten Häuser schmuddelig beige oder grau, zwischendrin die Errungenschaften des Westens. McDonald’s, sanierter Altbau, Apartmenthäuser aus viel Glas, Stahl und farbigen Fassaden. Wenn Hamburger über Berlin sprechen, sagen viele: Die Stadt ist schon irrsinnig groß. Toll, da für ein paar Tage zu Besuch zu sein – aber da wohnen? Nee! Ich sage das auch. Wie würde ich mich fühlen, wäre ich gezwungen, nach Berlin zu ziehen? In welchem Stadtteil würde ich leben? Vermutlich würde ich mich auch daran gewöhnen. Obwohl: Die gebürtigen Hamburger unter den BILD -Kollegen, die vor ein paar Jahren mit der Bundesredaktion in die Hauptstadt ziehen mussten, würden wohl alle sofort wieder zurückziehen – wenn sie könnten.
    Der Herausgeber kommt. Er ist gut drauf, er ist freundlich, er wirkt interessiert. Das erleichtert mich sehr, sehr. Er fragt, wie es mir geht, und ich komme mit der Antwort gleich zur Sache.
    «Danke, es geht mir gut, und damit es mir noch bessergeht, habe ich mich für eine berufliche Zäsur entschieden. Ich möchte mich selbständig machen.»
    Ich spreche die beiden Sätze ganz bewusst, jedes einzelne Wort, jede Silbe macht mir Spaß. Es ist der Moment, auf den ich so lange hingelitten habe. Jetzt bin ich am Ziel. Ich genieße den Zieleinlauf, es fühlt sich phantastisch an. So, als würde ich von einem unglaublichen Scoop erzählen, von der Exklusivgeschichte des Jahres, die wir an Land gezogen haben. Ich merke, dass ich frei von jedem Zweifel bin. Es ist tausendprozentig richtig, was ich hier gerade mache. Der Herausgeber merkt es auch.
    «Echt? Das finde ich super. Nein, ich finde es vor allem schade. Ganz ehrlich: großes, großes Bedauern! Du machst einen tollen Job, und du weißt, wie wichtig Hamburg für uns ist. Aber du wirst wissen, was du jetzt brauchst, und deshalb: Glückwunsch!»
    Wow. Das hätte ich nun wieder nicht von ihm erwartet. Ich berichte von meinem Drang, mich in verschiedenen Projekten ausprobieren zu wollen, mit Ende dreißig die Kraft, die ich noch habe, von der ich aber die vergangenen Jahre auch viel investiert und verloren habe, zu nutzen. Er sagt, er könne das verstehen. Nicht, dass er solche Gedanken nie gehabt hätte, aber einen Schritt raus habe er nie gemacht. Und er unterstütze deshalb jeden, der den Mut habe, aus sicherer Anstellung heraus Unternehmer zu werden.
    Mein Chef sagt mir, ich dürfe jederzeit wiederkommen, die Tür stehe mir offen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich sage: «Danke!» Wir vereinbaren, dass ich ihm ein paar Tage Zeit für die Suche nach einem Nachfolger gebe, bevor ich meine Redaktion informiere. Alles klar, kein Problem. Alles, was jetzt kommt, ist mir Latte. Ich merke, dass ich zittere. Vor Erleichterung. Wir verabschieden uns, und ich gehe zu der einzigen eingeweihten Kollegin. Sie beglückwünscht mich. Sie freut sich für mich und ist traurig für sich. Wir haben uns nun nicht mehr lang. Zumindest als Kollegen. Wir rauchen eine Zigarette.

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