Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
trank keinen Alkohol mehr, achtete auf seine Ernährung. Er steckte das weg, blieb der kritische Geist, als den ich ihn immer geschätzt hatte. Er meisterte den Spagat zwischen seiner strapaziösen Führungsrolle im Büro und seiner fordernden Aufgabe als Teilzeitpapa. Ich bewunderte ihn dafür. Er war für seine Kinder immer da, und wenn es in der Redaktion noch so hoch herging. Der Stress hat D. ruiniert. Vielleicht hat ihn letztlich die emotionale Belastung, das ungerechte Verhältnis von Einsatz und Anerkennung aus der Bahn geworfen.
Ich würde gerne mit D. Kontakt aufnehmen. Ich wage es nicht. Meine Angst hält mich davon ab. Die Konfrontation mit meinem vom Stress fast getöteten früheren Kollegen ist schon in der Vorstellung eine Herausforderung für mich, die ich zu leisten gerade nicht fähig bin. Ich werde das nachholen. Wenn ich raus bin, melde ich mich.
[zur Inhaltsübersicht]
Kündigung
April 2011
Heute werde ich mich entlassen. Besser: entlasten. Auf den Tag warte ich seit der Nacht in New York, in der ich am Hotelfenster stand und wusste: Bald passiert’s. Vor vier Wochen habe ich den Termin beim Herausgeber gemacht. Es ist Ende April, ein Donnerstag. Als ich morgens um halb neun die Wohnungstür zuziehe, stelle ich mir vor, am späten Abend als freier Mann wiederzukommen. Es wird alles anders sein. Ich werde anders sein. Der Gedanke euphorisiert mich, gleichzeitig macht er mich nervös. Ich habe schlecht geschlafen. Habe wahnsinnig geschwitzt. Habe die Bettdecke umgeschlagen, mich wieder zugedeckt, sie zur Seite geschoben, mich wieder zugedeckt. Habe den Fernseher angeschaltet, mich mit Gedankenwirrwarr im Kopf von der nächtlichen Wiederholung irgend so einer Nachmittagsserie berieseln lassen. Beziehungschaos in Rote Rosen ? Oder was mit hübschen Ärzten? Oder war’s so eine kriminelle Proleten-Doku? Hätte jemand den Fernseher ausgeknipst und mich gefragt, ich hätte es nicht beantworten können.
Lieber Kai, ich muss dir etwas sagen … Ich habe vor mich hin gedöst und stumm immer wieder den ersten Satz formuliert. Den Satz, mit dem ich den Herausgeber auf den zweiten Satz vorbereite. Der zweite Satz ist in Stein gemeißelt. Ich möchte mich selbständig machen. Ganz einfach, ganz sachlich, ganz banal, keine Schnörkel, kein Pathos. Lieber Kai, es wird dich jetzt wahrscheinlich überraschen … Nein, wird’s ihn vielleicht gar nicht. Lieber Kai, ich bin jetzt dreieinhalb Jahre Redaktionsleiter … Ach, und draußen scheint die Sonne . Lieber Kai, ich habe mir überlegt, beruflich etwas Neues anzupacken. Hm. Das wär okay. Irgendwie spielt’s auch keine Rolle. Wer weiß, wie er das Gespräch beginnt. Wahrscheinlich denkt er, ich möchte nach Berlin wechseln. Vielleicht hat er sich auch gar keine Gedanken gemacht. Um halb vier bin ich eingeschlafen. Um halb sieben bin ich aufgewacht. Mein Herz donnerte.
Als ich vor die Tür trete, ist es frühlingswarm. Einer der ersten Tage des Jahres, an dem man keinen Mantel braucht. Die Sonne strahlt zwischen zwei Schäfchenwolken hindurch, die weiß und wollig wie Zuckerwatte im hellblauen Himmel hängen. Eine leichte Brise. Ich steige gut gelaunt in meinen Dienstwagen und würde grinsen, wenn ich entspannter wäre. Zwei- oder dreimal hat mich der Fuhrpark-Manager des Verlags in den vergangenen zwei Monaten angerufen. Mein Leasing-Vertrag laufe aus und ich müsse den X3 im Sommer abgeben. Ich solle mich doch entscheiden, welches Modell ich künftig fahren wolle. Er müsse den neuen Wagen bestellen, sonst werde er nicht rechtzeitig geliefert. Jedes Mal habe ich gesagt, ich melde mich. Er tat mir ein bisschen leid, er sorgte sich, dass ich im Sommer ohne Firmenwagen dastünde. Dass das mein größtes Ziel ist, konnte ich ihm natürlich nicht sagen.
Ich fahre in die Redaktion, tauche ab in den dunklen Garagenschlund. Ich fühle mich das erste Mal seit mindestens einem Jahr nicht verschluckt. In meinem Büro bin ich der Erste. Die Sekretärin ist noch nicht da, ich schließe selbst auf, ich hole mir selbst die Zeitungen, eine Flasche Wasser, schenke mir ein Glas ein, krame zwei Baldrian aus der obersten Schublade meines Schubladenrollcontainers und schalte die Wiederholung der NDR-Regionalnachrichten vom Vorabend ein. Haha, kannste dich schon mal dran gewöhnen, alles wieder selbst zu machen, Alter. Wennste hier raus bist, haste niemanden mehr, der sich morgens um dich kümmert. Haha, ja gern. Herzlich willkommen in meinem neuen
Weitere Kostenlose Bücher