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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Onken
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ersaufen, dass du nicht die Kraft aufzubringen imstande bist, eine der Hände zu ergreifen und dich aus dem Strudel ziehen zu lassen.
    Immer wieder erlebe ich Situationen, in denen mir selbst sonnenklar wird, dass meine einzige Chance, in diesem Job dauerhaft zu überleben, darin besteht, mir helfen zu lassen. Gleichzeitig macht mich der Gedanke fertig, jemandem einzugestehen, dass ich Hilfe brauche. In meiner Vorstellung kommt das dem Eingeständnis gleich, den Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein.
    Oh, der ist überfordert! Er hat um Hilfe gebeten. Scheint so, als brauche er mal eine Auszeit, vielleicht ist der Job auch nichts für ihn. Vielleicht eine Nummer zu groß.
    Ein Eingeständnis von Schwäche. So bewerte ich es für mich. Gleichzeitig verlange ich von jedem Mitarbeiter, dass er sich rechtzeitig meldet, wenn es zu viel wird. In Personalgesprächen sage ich: «Es ist völlig okay, nicht immer alles in der Kürze der Zeit zu schaffen. Es ist aber nicht okay, das dann nicht zu sagen und nicht um Hilfe zu bitten.» Nie würde ich einem geschätzten Redakteur unterstellen, er sei prinzipiell überfordert, nur weil er in einer Recherche feststeckt oder mit einem Text mal nicht klarkommt. Würde er mir das rechtzeitig sagen, ich würde ihn für seine professionelle Einstellung loben und mich bestätigt sehen: Das ist ein richtig Guter!
    Für mich selbst jedoch gilt: Ich darf keine Schwäche zeigen. Ich bin Leithammel, ich darf nicht nach dem Weg fragen. Also lehne ich jede Hilfe ab und sage niemandem, dass ich am Stock gehe. Dass ich nicht cool genug bin, um über den Dingen zu stehen, und nicht unabhängig genug, als dass mich der Job nach Feierabend mal gernhaben könne. Ich funktioniere weiter. Und viele denken: Der hat ja alles prima im Griff.

[zur Inhaltsübersicht]
    New York
    Dezember 2010
    Ich war noch niemals in New York. Es hat sich nie ergeben. Früher hat es mich nicht interessiert, viel eher wäre ich nach Tokio, Moskau, Peking oder Istanbul gereist. Das waren Metropolen, mit denen ich etwas anfangen konnte. Für New York hatte ich keine Gefühle. Dann kam der 11. September.
    Ich weiß nicht, warum ich in den folgenden Jahren nie nach New York geflogen bin. Vielleicht, weil ich fast nie sehr viel länger als eine Woche Urlaub am Stück genommen habe. Im Irrglauben, blitzartig auf maximale Entspannung umschalten zu können, ging es dann meist an einen kanarischen Strand.
    Neuneinhalb Jahre nach 9/11 ist es so weit. Mein Kumpel Lars, mit dem ich meine Filmriss-Nacht erlebte, ist einer der wenigen, mit denen ich den Kontakt nicht abgebrochen habe. Er wird vierzig und lädt seine besten Freunde zum Feiern am Big Apple ein. Der erste Versuch im April ist gescheitert. Das «Asche-Monster», wie BILD den Ausbruch am Island-Vulkan Eyjafjallajökull getauft hatte, zwang uns dazu, zu Hause zu bleiben. Nun also wirklich. Ich spüre, dass es eine ganz besondere Reise wird. Und genau das wird sie. New York begeistert mich, das Tempo, die Vielschichtigkeit, die hunderttausendfach genutzten letzten Chancen Hunderttausender Lebenskünstler packen mich. Wie hier die Menschen ihre Ideen, Projekte und Träume verwirklichen, es voller Mut und Energie einfach drauf ankommen lassen, hab ich noch nirgendwo anders erlebt.
    Man müsste mal … Man sollte mal … Irgendwann werde ich … Wir erzählen einander so gern, was wir alles Verwegenes täten, wenn wir nur die Gelegenheit dazu hätten. Die meisten von uns werden es nie tun, weil sie vor lauter Sorge zu scheitern, alles daransetzen werden, dass sich die Gelegenheit für sie niemals ergeben wird. Stattdessen fügen sie sich ihrem Schicksal, folgen weiter dem Trott, aus dem sie in ihren Träumen so gern ausbrechen würden, und bleiben, wenn ihnen kein Wunder widerfährt, ihr Leben lang unzufrieden. Wir sind lieber unzufrieden als wagemutig. Es könnte ja schiefgehen – nicht auszudenken! Wir sind ein Volk von Bedenkenträgern, Angsthasen und Sicherheitsfanatikern. In New York sind viele Menschen anders, dort herrscht ein anderer Spirit. Es ist dieser dynamische Geist, der mich ansteckt. Er empfängt mich am Flughafen, ist mir auf Anhieb sympathisch, von jetzt an folge ich ihm auf Schritt und Tritt auf der Entdeckungstour durch diese grelle Hauptstadt der Welt.
    Der Hammer fällt am vierten Tag morgens um halb fünf. Ich kann schon wieder nicht schlafen, der Jetlag hat mich trotz Melatonin-Tabletten böse am Wickel. Ich stehe zum mindestens fünften Mal auf in

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