Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
Sohn merkt das. Viel zu lang schon sitzt er an der Wii. Er guckt zu mir. Sein Blick offenbart, dass er sich um mich sorgt. Um seinen Vater, der nicht lacht, der nichts sagt, der einfach nur daliegt und ins Leere starrt.
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Hilfe – bitte nicht!
November 2010
Über meinen Stress habe ich jahrelang fast nicht gesprochen. Wenigen mir sehr vertrauten Menschen habe ich geschildert, wie sehr ich unter Druck stehe, wie wenig Luft zum Atmen ich außerhalb der Redaktionsräume habe. Ich bleibe dabei immer sehr sachlich. Die Geschichten müssen sich anhören, als würde ich gar nicht von mir, sondern von einer anderen Person erzählen. Oft frage ich mich, warum das so ist. Nie gab es eine Zeit, in der ich kein Bedürfnis hatte, mich mitzuteilen. Immer wieder befällt mich die Sehnsucht, mich jemandem zu offenbaren – in der Hoffnung, es werde dann alles ein bisschen erträglicher. Aus anderen Krisensituationen weiß ich sehr genau, wie hilfreich es sein kann, sich mit seinen Gedanken einem Vertrauten mitzuteilen. So ging es mir zum Beispiel nach der Trennung von meiner Frau. Ich habe mit Freunden über vieles gesprochen, was mich beschäftigte. Oder als ich damals zum Therapeuten gegangen bin, jeden Mittwochmorgen um acht, und mich auf seine Couch gelegt und erzählt habe. Fünfzig Minuten erzählt von dem, was ich erlebt hatte, was es mit mir machte und wie es mich forderte. Das tat gut. Es hat mir sehr geholfen, all das mit jemandem zu teilen, was mir so sehr auf der Seele lastete. Dabei hat der Therapeut gar nichts gemacht. Er hat mir einfach zugehört.
Über meine Höllenfahrt im Job habe ich fast nur geschwiegen und tue es noch immer. Manchmal, in seltenen offenen Momenten, habe ich Freundinnen, meinen besten Freunden und meinen Eltern gegenüber mal zaghaft etwas angedeutet. Ich glaube, ich habe sie damit geschockt. Jedenfalls haben sie mir dringend geraten, vom Gas zu gehen, und haben versucht, mir Wege aufzuzeigen, wie ich mich entlasten könne. Zum Beispiel, in dem ich viel mehr delegiere, mir weniger Projekte aufhalse, mir nicht alles so sehr zu Herzen nehme. Damit hatten sie recht, und es hört sich auch ganz simpel an. Je nachdem, wie sehr ich gerade unter Druck stand, habe ich mir entweder vorgenommen, bei Gelegenheit einem der Ratschläge zu folgen, oder ich habe das Gespräch abgebrochen. Mit der Bemerkung, dass es alles nicht so einfach sei und ich die Dinge schon geregelt bekäme. In Wahrheit macht mich die Vorstellung geradezu verrückt, meine Ent-Stressung organisieren zu müssen. Obwohl es der Entlastung dienen soll, bedeutet es zunächst wieder einmal Arbeit. Davon hatte ich schon mehr als genug. Allein das Gespräch über den Stress stresst mich schon wieder. Ich will und kann darüber nicht reden und nachdenken, schon gar nicht nach Feierabend. Das wiederum ist aber das einzige winzige Zeitfenster, in dem sich überhaupt die Möglichkeit ergeben könnte, mit Freunden mal ein offenes Wort zu sprechen. Ein Teufelskreis.
Ich habe lange Zeit nicht verstanden, warum ich sofort auf Abwehr schalte, wenn mir jemand wohlwollend konstruktive Lösungswege skizziert. Irgendwann beobachtete ich bei einem Kollegen vom Fernsehen, der oft einen enorm gestressten Eindruck macht, ein ähnliches Verhalten. Ich hatte gerade Urlaub oder ein paar freie Tage und war mit dem Kollegen zum Mittagessen verabredet. Ich war relativ gelassen. Seine Kurzatmigkeit erschreckte mich. Er konnte sich mit keiner Projektidee, die in irgendeiner Weise Arbeit und damit Zeit verlangt hätte, länger als für einen kurzen Moment beschäftigen. Ich sprach ihn darauf an und machte ihm einen konkreten Vorschlag, wie er sich mit Hilfe einer fachlich kompetenten Assistenz ein wenig freischwimmen könnte. Der TV-Mann wollte davon nichts wissen. Vielmehr: Er konnte meine Hilfe nicht zulassen. Er malte sich aus, wie er die Assistenz einweisen müsste, und sah den Aufwand, den das bedeutete, als Bergmassiv vor sich. Den Blick nach vorn zu richten und zu erkennen, wie sehr ihn diese überschaubare Investition erleichtern würde, war ihm in diesem Moment nicht möglich.
Hat dich der Strudel des täglichen Drucks erst mal erfasst, kreiselst du dem Untergang entgegen. Die rettenden Hände, die sich dir in Form von Einladungen zum Sport oder Wellness, Erkundigungen nach deinem Befinden, sorgenvoller Blicke und Coaching-Angeboten entgegenstrecken, siehst du zwar. Du hast aber dermaßen zu kämpfen, um nicht auf der Stelle zu
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