Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
Lebensumstände sind auch nicht gerade einfach. Sie haben sich beruflich verändert, das ist gut. Aber Ihr Körper kommt da so schnell nicht mit. Der holt sich jetzt zurück, was Sie ihm genommen haben, das kann lange dauern. Seien Sie geduldig.»
Mehr als ein Jahr ist inzwischen seit meinem Ausstieg vergangen. Noch immer fühle ich mich unendlich befreit vom täglichen Druck, der mich zerstörte. Meine Selbständigkeit funktioniert. Nur halb so viel Zeit wie früher investiere ich in meinen neuen Job. Ich habe seit langer Zeit wieder eine funktionierende Beziehung. Ich liebe Sonja, seit zwei Monaten sind wir Eltern. Jon ist das pure Glück. Fast hatte ich vergessen, wie die Geburt eines Kinds beseelt. Als vor knapp dreizehn Jahren Samy zur Welt kam, begann ich kurz darauf Karriere zu machen. Nun ist alles anders. Ich muss mir nichts mehr beweisen. Mein Job macht mir Spaß, aber ist nur noch nachrangig in meinem Leben. Erst kommen die Liebe und meine Söhne. Dann meine Eltern, die Familie, Freunde.
An die Arbeit in der Redaktion denke ich kaum noch. Ich träume nur noch selten davon. Bis vor einer Weile war das anders. Die tägliche Belastung und das unterdrückte Bedürfnis nach Ausbruch und Freiheit wirkten viele Monate nach, holten mich vor allem nachts ein.
Warum hast du dich so lange gequält?
Wieso bist du nicht früher ausgestiegen?
Zwei Fragen, die mir immer wieder gestellt werden.
Es musste wohl sein, ich brauchte die Zeit, um mir hundertprozentig sicher zu werden, das Richtige zu tun.
Ist das der tatsächliche Grund? Erst als ich meiner Freundin aus dem Manuskript für dieses Buch vorlese und auch sie mir die Frage stellt, wieso ich nicht früher gekündigt habe, beginne ich, darüber nachzudenken.
Ich habe etwa vier der letzten sieben Jahre im Job das Bedürfnis gespürt, die Reißleine zu ziehen. Die erste Zeit kreisten meine Gedanken nicht so sehr um ein anderes, freies Leben. Das passierte erst später, etwa anderthalb Jahre vor der Kündigung.
Erst dann musste eine Strategie her. Eine Zeitlang überlegte ich, zu kündigen und für einige Monate auf Reisen zu gehen, vom Ersparten zu leben und vor allem: nichts zu machen. Ich verwarf den Gedanken. Ich kenne mich. Nach kurzer Zeit auf Tour hätte mich die Sorge befallen, ohne Zukunftsplan zurückzukehren. Das hätte mich den Trip nicht genießen lassen. Das Dilemma, in dem ich steckte: Ich war mir klar darüber, dass ich möglichst bald aussteigen musste. Aber mir fehlte die Kraft und die Sonne im Herzen, meinen Weg zu skizzieren. Ich fühlte mich ausgelaugt und müde, in mir herrschte emotionale Düsternis. Nicht die besten Voraussetzungen, um sein Leben in neue Bahnen zu lenken.
Der Grund, warum ich so lange brauchte, um das zu tun, was ich in Gedanken längst getan hatte, war Kraftmangel. Mangel an physischer wie psychischer Kraft. Und es war auch der Gedanke an den besten Zeitpunkt aus taktischer Sicht. Ich wollte in einer Phase gehen, in der ich fest im Sattel saß. Meine Entscheidung sollte alle überraschen.
Auch weil ich Bestätigung jahrelang überwiegend aus meiner Arbeit gezogen habe, bin ich so lange geblieben. Die Bestätigung war teuer erkauft, lange war ich davon ausgegangen, ohne sie noch unglücklicher zu werden. Wir machen uns total abhängig davon, wie wir gesehen werden, wie gut uns andere leiden können. Die Zuneigung unserer Umwelt ist der Antrieb. Spontan fällt mir niemand ein, der anders tickt. Die Leute unterscheiden sich nur im Ausmaß, in dem sie sich abhängig vom Zuspruch der anderen machen. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die für alles, was sie tun, anerkannt werden müssen. Die nicht allein sein können, nicht einen Abend, nicht einen Tag am Wochenende. Aber auch ich brauche viel Bestätigung. Warum bloß? Vielleicht schenke ich mir selbst zu wenig Anerkennung.
Alle buhlen um die Gunst der Menschen, deren Meinung ihnen was zählt. Das sind am Anfang die Eltern, die Mitschüler, die Clique, bei manchen die Lehrer (die Coolen finden es cooler, von ihnen nicht gemocht zu werden), später sind es Kollegen, bei Frauen die Männer, bei Männer die Frauen, und immer sind es die Chefs. Wie unsere Gesellschaft wohl wäre, wären wir alle selbstbewusster? Selbstbewusst im Wortsinne. Uns unserer Selbst bewusst. Ich bin darin nicht gut, ich nehme mir aber immer wieder vor, es zu lernen. Ich möchte unabhängig sein.
Die Finsternis, die mein Stress mir jahrelang bescherte, hat wenig damit zu tun, dass ich bei Europas
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