Bis Sansibar Und Weiter
würde das dauern. Höchstens fünf. Und dann: Tschüss!
Zu Hause fand ich meine Mutter im Garten. Sie sah erschöpft aus. Und immer noch traurig. Das vor allem. Vor dem Kirschbaum stand ein Stuhl, daneben lag eins von Mamas Zeichenblättern.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Er war nicht da«, antwortete sie.
»DD?«
Sie nickte.
»Der kommt schon wieder«, sagte ich.
»Meinst du?«
»Bestimmt.«
Ich ging zum Kirschbaum hinüber und hob das Zeichenblatt auf. Auf den ersten Blick waren nur Dreiecke zu sehen, dutzende von Dreiecken. Aber wenn man genauer hinschaute, verwandelte sich jedes Dreieck in einen kleinen Weihnachtsmann. Das war genial. Ach was, das war Weltklasse. »Toll«, sagte ich. »Superobertoll.«
»Nein«, sagte sie. Zwischen ihren Augen erschien eine steile Falte. »Gar nicht.« Damit zerriss sie das Blatt.
»Warum tust du das?«, rief ich erschrocken.
Doch sie schwieg. Schon wieder jemand, der mir nicht antwortete.
Mit leerem Blick ging Mama an mir vorbei ins Haus. Ich kniete mich hin und sammelte die Fetzen auf. Einen nach dem anderen.
Fünftes Kapitel
L ennart hat sich schon im Kindergarten als mein Beschützer gefühlt. Als mein Bodyguard sozusagen. Ich glaube, er mochte mich, wie man einen kleinen Hund mag. Oder seinen abgelutschten Teddybären. Ich hatte zwar keinen großen Bruder. Aber ich hatte Lennart. Richtige Freunde wurden wir allerdings nie. Doch ich wusste immer, dass ich mich auf ihn verlassen konnte.
Wir waren im zweiten Schuljahr, da fingen mich zwei Jungs aus der Vierten nach der Schule ab und schleppten mich auf eine abgelegene Wiese hinter dem Sportplatz. Dort begannen sie, mich hin und her zu werfen. »Zwergenschmeißen« nannten sie das. Ihnen machte es irren Spaß, ich fand es, wie man sich denken kann, überhaupt nicht lustig.
Ich weiß bis heute nicht, ob jemand Lennart Bescheid gesagt oder wie er sonst davon erfahren hatte. Jedenfalls kam er angerannt, riss mich den beiden weg und stellte mich auf die Füße. Dann packte er die verdutzten Jungenam Genick und stieß sie heftig mit den Köpfen zusammen. Es klang eindeutig nach Holz, kein Witz. Noch zwei Tage später klagten die beiden über Kopfschmerzen und Lennarts Mutter musste zum Rektor.
Gewalt dulde man nicht, sagte man ihr dort. Die Jungen hätten doch nur mit mir spielen wollen. Lennart kriegte eine ernste Verwarnung, mit mir sprach niemand über den Vorfall. Merkwürdig, oder? Aber ein Gutes hatte die Geschichte: Bis zum Ende der Grundschulzeit ist mir niemand mehr blöd gekommen.
Auf dem Gymnasium musste mir Lennart nur noch ein einziges Mal helfen. Da waren wir in der Fünften. Ein Junge aus der Siebten hatte mir auf dem Schulhof ein Bein gestellt und ich hatte mir das Knie blutig geschlagen. Lennart hatte sich den Typ wortlos gegriffen und ihm sanft die Nase umgedreht. Seitdem hatte ich Ruhe.
Aber jetzt war Linda in unserer Klasse. Die forderte Lennart heraus. Die war nicht in ihn verknallt wie die anderen Mädchen. Die hatte keine Angst vor ihm. Lennart war der Chef, er war es schon in der Grundschule gewesen. Wer das akzeptierte, hatte es gut. Wer es nicht tat, musste damit rechnen, dass Lennart es ihm klar machte.
Mittlerweile hatten die Herbstferien begonnen, meine Mutter und ich waren nicht in Urlaub gefahren. Wir hätten es uns ohne weiteres leisten können. Aber ich fand es besser, unsere Reserven auf der Bank nicht anzugreifen. Die Zeiten waren nicht besonders. Da wares gut, ein finanzielles Polster zu haben. Oma fand das übrigens auch.
Meinen wöchentlichen Unterricht bei Frau Dollhase-Roggenfeld hatte ich für die Ferien nicht abgesagt. Ich hatte sogar mehr geübt als sonst. Außerdem hatte ich die freie Zeit genutzt, um endlich mein Fahrrad fertig zu reparieren. Die Schaltung funktionierte jetzt wieder einwandfrei, die Gänge ließen sich einlegen wie in Butter. So gesehen war alles in schönster Ordnung – wenn, ja wenn meine Mutter nicht gewesen wäre. Sie war traurig, seit Tagen schon.
Auf dem Weg zu Frau Dollhase-Roggenfeld überlegte ich, wie ich Mama helfen konnte. Sie saß morgens und abends vor dem Kirschbaum, um mit DD zu sprechen. Mit dem Geschenkpapier für das Weihnachtsgeschäft kam sie auch nicht weiter. Ich fand ihre Entwürfe wunderbar, doch sie war nie zufrieden und zerriss einen nach dem anderen. Mit dem Einsammeln der Fetzen kam ich kaum nach. In meinem Zimmer lagerte bereits ein Dutzend Tüten, in denen ich die Schnipsel ihrer Entwürfe verwahrte. Fragte ich Mama,
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