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Bis Sansibar Und Weiter

Titel: Bis Sansibar Und Weiter Kostenlos Bücher Online Lesen
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was mit ihr los sei, schwieg sie. Erzählte ich ihr von der Schule, hörte sie nicht zu. So hatte ich sie noch nie erlebt.
    Nachdem ich ihr den Choral aus den Kinderstücken von Schumann vorgespielt hatte, war Frau Dollhase-Roggenfeld begeistert. »Marius«, sagte sie feierlich, »Marius, das hört sich heute zum ersten Mal wie Klavierspielen an.«
    »Ich dachte schon, ich lerne es nie.«
    Sie strich mir über die Haare und goss sich Tee nach. »Natürlich musst du das Legato noch ein bisschen üben, damit es nicht abgehackt klingt. Und jetzt wollen wir schauen, ob es auch mit den Tonleitern besser klappt.«
    Tonleitern? Um Himmels willen, nur keine Tonleitern! »Darf ich Sie was fragen?«, sagte ich.
    »Selbstverständlich.«
    »Sind Sie manchmal traurig?«
    »Aber ja. Das ist doch normal. Wieso fragst du?« »Wissen Sie immer, warum Sie traurig sind?« Sie dachte nach. »Nicht immer«, sagte sie dann.
    »Und was tun Sie, damit Sie wieder fröhlich werden?« »Meistens gar nichts«, antwortete sie. »Meistens geht es von allein weg.«
    »Und wenn nicht?«
    Sie lächelte. Um ihre Augen erschienen kleine Falten. »Dann kaufe ich mir Schuhe.«
    »Schuhe?«
    »Oder ein Kleid. Oder ich gehe ins Café und esse drei Stück Kuchen«, antwortete sie. »Ich habe auch schon vier geschafft. – Wieso willst du das eigentlich alles wissen?«
    Frau Dollhase-Roggenfeld war nett. Ich mochte sie. Aber sie war nicht der Mensch, dem ich von meinen Problemen hätte erzählen wollen. »Nur so«, sagte ich deshalb.
    Ich musste dann doch keine Tonleitern spielen. Stattdessen beschäftigten wir uns mit der Begleitung von Volksliedern, und ich stellte fest, dass mir Akkorde einfachbesser lagen. Hat bestimmt mit meinen Händen zu tun. Am Ende der Stunde war ich jedenfalls zufrieden, genau wie Frau Dollhase-Roggenfeld.
    Auf der Fahrt nach Hause begegnete ich Linda. Sie kam mir auf einem Mountainbike entgegen. Mindestens 24 Gänge, schätzte ich. Wieder trug sie die Haare offen, dazu ein weißes, viel zu großes Herrenhemd, das wahrscheinlich ihrem Vater gehörte, und ausgefranste Jeans.
    »Um sechs bei dir?«, rief sie.
    »Ja«, rief ich zurück. Ich hatte versprochen, ihr in Mathe zu helfen. Selber schuld, schimpfte ich mich aus.
     
    Eine Stunde später klingelte es und Linda stand vor der Tür. Sie hatte ihr Fahrrad an die Hauswand gelehnt und sich die Haare wieder zu einem Pferdeschwanz gebunden.
    »Deine Mutter...«, begann sie, während wir in mein Zimmer hinaufgingen.
    »Ja?«
    »Deine Mutter spricht mit einem Baum«, sagte Linda.
    »Na und?«, sagte ich. Ich hatte beschlossen, mit ihr Mathe zu üben. Alles andere ging sie nichts an.
    Linda setzte sich auf einen der beiden Stühle, die ich vor meinen Schreibtisch gestellt hatte. Ich hockte mich neben sie – und erschrak: Ihre so umwerfend pralle Unterlippe war aufgeplatzt, an der Nase war verkrustetes Blut zu sehen, an der rechten Schläfe wuchs eine Beule. Mein Gesicht hatte nach den Zusammenstößen mit Lindas Faust und ihrem Bleistift genauso ausgesehen.
    »Bist du gestürzt?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf.
    Ich dachte an das Zimmer mit dem Monstercomputer und an die japanischen Kampfstöcke. »War das... etwa... dein... Vater?«
    Wieder schüttelte sie den Kopf. In ihren Augen standen Tränen. Das war neu. Linda machte nicht den Eindruck, als weine sie oft.
    »Was ist dann passiert?«, fragte ich weiter.
    Sie wischte sich die Nase am Ärmel ihres weißen Hemds ab. Eine rote Spur blieb auf dem Stoff zurück. »Komm, lass uns Mathe üben«, murmelte sie.
    »Erst sagst du mir, wer das gemacht hat!«, rief ich. »Lennart«, antwortete sie leise.
    Lennart? »Das glaube ich nicht«, sagte ich, nachdem ich mich von dem Schreck erholt hatte. »Der hat das doch gar nicht nötig.«
    »Es war Lennart. Er hat mir mit zwei anderen aufgelauert. Und dann...« Sie brach ab.
    »Und dann?«
    »Dann haben sie mich ausgezogen... einfach die Klamotten vom Leib gerissen... Ich hab mich natürlich gewehrt... wie verrückt... aber ich hatte keine Chance... Und dann bin ich nach Hause gefahren... nur in der Unterhose...«, berichtete sie stockend.
    »Dadadas gibt’s nicht!«, stotterte ich. »Lennart macht so was nicht!«
    »Ach, der macht so was nicht!«, rief Linda und krempelte die Ärmel ihres Hemds hoch. Ihre Arme warenüber und über mit roten Flecken bedeckt. Flecken, wie sie entstehen, wenn man jemanden kneift.
    In mir stieg Wut hoch, eine wahnsinnige Wut. »Komm mit!«, sagte ich

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