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Bis Sansibar Und Weiter

Titel: Bis Sansibar Und Weiter Kostenlos Bücher Online Lesen
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Hause musste ich einhändig fahren. Die Hand, die mir Lennart umgedreht hatte, tat höllisch weh.
    Bis ich an diesem Abend einschlief, schossen mir immer dieselben Fragen durch den Kopf:
    War ich in Linda verknallt? Nein.
    War sie mir egal? Nein.
    War ich verrückt? Wahrscheinlich.

Sechstes Kapitel
    A m nächsten Morgen stand meine Mutter nicht auf. Als ich gegen zehn in ihr Zimmer kam, waren die Rollos heruntergelassen, ihre Sachen hingen nachlässig über einem Stuhl, ein Badetuch lag neben dem Bett auf dem Boden, darauf ein Kamm und ein Spiegel. Mama hatte mir den Rücken zugewandt, in der Hand hielt sie DDs schwarzes T-Shirt.
    »Bist du krank?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf.
    Ich setzte mich zu ihr aufs Bett. »Was ist los, Mama?«
    Jetzt öffnete sie die Augen. »DD kommt nicht mehr«, antwortete sie traurig. »Ich rufe ihn jeden Tag zu unserem Baum. Aber er hört mich nicht.«
    Was sollte ich darauf sagen? Dass DD seit acht Jahren tot war? Dass man ihn im Krematorium verbrannt hatte? Dass nichts als Asche von ihm geblieben war – und unsere Erinnerungen? Mit meiner Oma hatte ich darüber gesprochen, mit meiner Mutter nie. »Lass es lieber, Irene verkraftet das nicht«, hatte Oma gesagt.
    »DD hört dich bestimmt«, versuchte ich, Mama zu beruhigen.
    »Und warum antwortet er nicht?«
    »Vielleicht hat er zu tun«, sagte ich.
    »Meinst du?«
    »Bestimmt.«
    Meine Mutter schloss wieder die Augen. »Lässt du mich noch ein bisschen schlafen?«, fragte sie.
    In den nächsten Stunden tat ich etwas, was ich nur ganz selten tue – zum Beispiel wenn ein Mädchen zu Besuch kommt. Ich räumte das Haus auf. Ich kehrte das Laub auf dem Vorplatz zusammen. Ich wischte im Wohnzimmer Staub. Ich brachte schmutzige Wäsche aus dem Badezimmer in den Keller. Und stellte dabei fest, dass meine Mutter alles hatte verkommen lassen.
    Nachdem ich einen Stapel Zeitschriften zum Papiercontainer getragen hatte, kochte ich Mama einen starken Kaffee, machte ihr ein Brot mit ihrer Lieblingsmarmelade und brachte beides in ihr Zimmer. Sie lag unverändert, mit dem Rücken zur Tür. DDs T-Shirt hatte sie wie einen Schal um ihren Kopf gewickelt. Ich zog das Rollo so weit hoch, dass ein wenig Licht hereinfiel, und stellte das Tablett neben ihr Bett.
    »Ich habe keinen Hunger«, sagte sie leise.
    »Schau mal, Rhabarber-Marmelade«, sagte ich. »Du bist lieb, Marius.«
    »Trink wenigstens den Kaffee, Mama.«
    Sie richtete sich auf. Ich drückte ihr die Tasse in die Hand und sie trank in kleinen Schlucken. »Schmecktgut«, sagte sie und versuchte zu lächeln. Eine Weile schwiegen wir. Im Zimmer wirkte alles wie mit weicher Kreide gezeichnet.
    »Ich bin eine schlechte Mutter«, sagte sie plötzlich. »Du bist die beste!«, widersprach ich. »Die allerbeste. Willst du nicht einen Bissen...«
    »Nein«, unterbrach sie mich. »Ich bin eine sehr schlechte Mutter. Du hättest eine bessere verdient, Marius.« Sie legte mir die Hand auf den Arm. »Mir fällt nichts mehr ein«, murmelte sie. »Du kannst dem Herrn Jansen bestellen, dass ich es nicht schaffe.«
    »Das werde ich nicht tun«, widersprach ich. »Dir geht’s nicht gut, Mama. Aber das wird schon wieder. Sollst mal sehen. Und dann zeichnest du das schönste Geschenkpapier der Welt.«
    »Du bist lieb, Marius«, wiederholte sie und schloss die Augen. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck. Von jetzt an würde sie in einer Welt sein, zu der niemand Zutritt hatte. Auch ich nicht.
     
    Linda klingelte um Viertel nach sechs. Ihr war auf der Fahrt zu uns die Kette abgesprungen. Sie hatte ölverschmierte Hände und verschwand erst mal im Bad. Danach setzte sie sich in meinem Zimmer an den Schreibtisch und sagte: »Wir können anfangen, Marius.«
    Kein Wort zu dem, was am Bolzplatz vorgefallen, kein Wort darüber, warum sie abgehauen war. Und nicht einmal ein Dankeschön dafür, dass ich ihre Sachen zu ihr nach Hause gebracht hatte.
    Unter anderen Umständen wäre ich jetzt wütend geworden. Aber mir ging meine Mutter nicht aus dem Kopf. Sie war noch immer nicht aufgestanden. Mama war wichtiger als Linda oder Lennart. Sie war wichtiger als eine verrenkte Hand oder ein blaues Auge. Viel wichtiger.
    Ich schlug das Mathebuch auf. »Was hast du nicht verstanden?«
    »Alles.«
    In der nächsten Stunde rechneten wir Textaufgaben. Linda war nicht zahlenblind wie meine Mutter, aber viel fehlte nicht. Die Grundrechenarten beherrschte sie noch einigermaßen. Doch Texte in Rechnungen umzuwandeln, lag ihr

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