Bis unter die Haut
gar nicht sieht, das aber jedem anderen sofort auffallen wird.
Ob Markie es bemerken würde? Würde sie einen Unterschied feststellen, wenn sie sich morgen begegnen würden? Und Laurie, wird sie es sehen?
Willow fragt sich, ob ihre Mutter es ihr angesehen hätte. Und falls nicht, ob sie es ihr erzählt hätte.
Sie weiß es nicht. Aber eines weiß sie ganz sicher: Es wird in ihrem Leben immer wieder solche Momente geben – Momente, in denen sie sich nichts mehr wünscht, als ihrer Mutter etwas zu erzählen, ihren Vater etwas zu fragen, Dinge, die sie ihnen nie wieder erzählen, die sie sie nie wieder fragen kann. Keine einzige Träne, die sie darüber weint, wird jemals etwas daran ändern. Genauso wenig wie die Rasierklinge.
Sie geht wieder zu ihrem Schreibtisch, um endlich an dem unseligen Essay weiterzuarbeiten, aber als sie sich hinsetzt, hört sie einen schwachen, erstickten Laut, und dieses Mal weiß sie sofort, was er bedeutet.
Mittlerweile müsste sie sich eigentlich daran gewöhnt haben, ihren Bruder nachts weinen zu hören, aber es fällt ihr sogar noch schwerer, seine Tränen auszuhalten als ihre eigenen.
Sie schlüpft in ihren Bademantel und geht leise aus dem Zimmer. Am Treppengeländer kniet sie sich hin. Wenn sie den Hals weit genug reckt, kann sie ihn am Küchentisch sitzen sehen.
Der Anblick ist unerträglich.
Plötzlich hat sie das dringende Bedürfnis, zu ihm hinunterzugehen, ihn mit ihrer Anwesenheit zu konfrontieren, ihn irgendwie zu trösten. Jetzt, da sie weiß, wie es sich anfühlt, so zu weinen, erträgt sie den Gedanken nicht, dass er dabei allein ist. Aber wie kann sie ihn überhaupt trösten, wenn sie doch der Grund für seine Tränen ist?
Ohne nachzudenken, greift sie nach der Rasierklinge in der Bademanteltasche. Sie hält sie aber nur fest, benutzt sie nicht. Sie kann über ihn wachen, ohne sich zu ritzen, das hat sie sich bereits bewiesen. Aber nur über ihn zu wachen, reicht nicht mehr. Schafft sie es, zu ihm zu gehen? Sich selbst offen mit seinem Schmerz zu konfrontieren? Ist sie stark genug dafür?
Zögernd nimmt sie die erste Stufe, doch dieses Mal versteckt sie sich nicht. Dieses Mal wird er sie sehen, wenn er aufschaut.
Sie ist am Fuß der Treppe angekommen und wendet keine Sekunde den Blick von ihm, während sie weiterhin die Rasierklinge umklammert hält. Ohne dass sie es beabsichtigt, drückt sich die scharfe Klinge in ihre Haut.
Ist es das, was sie will? So weitermachen wie bisher? Ist das die Antwort auf ihre Frage von vorhin?
Ratlos sinkt sie auf die unterste Stufe. Sie kann nicht zu ihm gehen, kann aber auch nicht aufhören, ihn anzusehen. Sie spürt, wie die Wunde in ihrer Hand zu bluten beginnt. Sie sollte die Klinge loslassen, sollte aufstehen und zu David gehen. Aber sie schafft es nicht.
Und so bleibt sie einfach sitzen und wartet darauf, dass ihr Bruder sie bemerkt. Ob er jemals aufschaut? Ob er sie jemals in seine Welt aus Schmerz lassen wird, selbst wenn ihre Anwesenheit darin den Schmerz womöglich noch verstärken wird? Und dann hebt David den Kopf und blickt ihr direkt in die Augen.
Willow lässt die Rasierklinge in die Tasche zurückgleiten und geht langsam auf ihn zu. Am heutigen Tag hat sie gleich ein paar Dinge zum ersten Mal gemacht, und jetzt wünscht sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit nichts sehnlicher, als wieder echten Kontakt zu ihrem Bruder herzustellen. Sie will, dass er weiß, dass sie ihn immer noch liebt, selbst wenn sie seine Liebe verloren hat. Will, dass er weiß, dass es sie un glücklich macht, ihn so traurig zu sehen.
Sie sehen sich schweigend an. Seine Tränen lassen sie nicht zurückweichen. Genauso wenig sein Schmerz.
Willow steht vor ihrem Bruder. Sie sieht, wie er den Mund öffnet und kaum hörbar ihren Namen flüstert.
Sie beugt sich zu ihm, damit sie hören kann, was er ihr sagen möchte. Plötzlich greift er nach ihrer Hand und zieht sie so fest an sich, dass sie kaum noch atmen kann.
»Oh Willow«, flüstert er. »Was, wenn du in dieser Nacht auch gestorben wärst?«
KAPITEL SECHZEHN
»Okay, ich glaube, das war’s. Aber die Fußnoten musst du selbst einfügen, das schaffe ich jetzt einfach nicht mehr.«
»Meinst du wirklich?« Willow schaut zweifelnd auf den Bildschirm ihres Rechners. »Ich finde, wir sollten noch mit reinbringen, wie ironisch es ist, dass ausgerechnet das, was sie zwingt in der Unterwelt zu bleiben, also der Granatapfel, ein Symbol für …«
»Hey, zu gut soll es doch auch nicht
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