Bis unter die Haut
aufgeplatzt sind. Hilflos sieht sie zu, wie Blut durch den Ärmel ihres Shirts sickert. Ohne ihn noch einmal anzuschauen, rennt sie einfach los. Sie weiß nicht mal, in welche Richtung sie läuft, aber das ist ihr egal.
»Hey.« Schon hat er sie eingeholt, fasst sie aber dieses Mal an den Schultern und dreht sie sanft zu sich um. »Du blutest!«
Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Ist wie gelähmt.
»Das sieht ziemlich übel aus.« Besorgt betrachtet er die sich dunkelrot verfärbende Stelle auf ihrem hellgrauen Shirt.
Er hat es noch nicht gecheckt , denkt Willow erleichtert. Kann es tatsächlich sein, dass er zwischen dem Blut, das jetzt durch ihren Ärmel sickert, und dem, das gestern im Physikraum durch ihre Jeans gesickert ist, keinen Zusammenhang herstellt?
Wenn ihr nur irgendeine plausible Erklärung einfal len würde. Warum hatte sie auch ausgerechnet so eine dumme Stelle gewählt? Das mit dem Bein war nicht schwer zu erklären … aber an den Unterarmen ?
Guy starrt immer noch die blutigen Flecken auf ihrem Shirt an und wirkt zunehmend verwirrter. Dann hebt er den Blick und schaut sie fragend an.
Tja, Pech gehabt , denkt Willow. Eine Antwort wird sie ihm schuldig bleiben. Sie zieht den Arm weg und spürt dabei kaum etwas von dem Schmerz. Dabei rutscht ihr blöderweise der Rucksack von der Schulter und landet so unglücklich auf dem Boden, dass sich sein gesamter Inhalt über den Rasen verteilt.
»Nicht!«, schreit sie, als Guy sich bückt, um ihre Sachen einzusammeln. Warum ist er bloß so verdammt wohlerzogen? Am liebsten würde sie ihn wegstoßen, ihn gegen das Schienbein treten. Er soll ihre Sachen nicht anfassen.
Sie stürzt sich auf ihren Rasierklingenvorrat. Zu spät. Guy ist schneller. Seine Hand schließt sich um das kleine Plastiktütchen, in dem sie die Klingen aufbewahrt. Er richtet sich wieder auf und reicht sie ihr, gemeinsam mit ein paar Stiften und einem angebrochenen Päckchen Kaugummi. Dann bückt er sich erneut und sammelt den Rest ihrer Sachen ein.
Willow kann es kaum glauben. Er hat die entlarvenden Beweisstücke gefunden und kapiert es immer noch nicht . Stellt keine Verbindung zwischen den Wunden an ihrem Arm und den Rasierklingen her, die er gerade aufgehoben hat.
Sie ist so dermaßen erleichtert, dass sie hysterisch zu kichern anfängt. Guy wirkt einen Moment lang irritiert. Aber dann grinst er und fällt in ihr Lachen mit ein. Für den Bruchteil einer Sekunde wird ihr bewusst, wie sie auf andere wirken müssen: wie ein junges verliebtes Pärchen. Das bringt sie sogar noch mehr zum Lachen. Woher sollte jemand, der sie gerade zufällig beobachtet, auch wissen, dass sie lacht, weil Guy die Bedeutung dessen, was sie in der Hand hält, nicht klar ist?
»Hey.« Guy zeigt plötzlich auf die Tüte mit den Rasierklingen. »Ich benutze genau die gleiche Marke.« Er schaut sie an und hört auf zu lachen, und in dem Moment weiß sie, dass sie hätte wegrennen sollen, dass sie ihn falsch eingeschätzt hat, dass er es doch kapiert hat.
»Hey!«, wiederholt er, und dieses Mal hat seine Stimme einen panischen Unterton. Willow möchte abhauen, aber sie ist wie gelähmt. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlagen sich. Fieberhaft überlegt sie, was sie sagen könnte, damit er es für sich behält.
»Hey, Willow …?«, beginnt er, beendet den Satz aber nicht, sondern packt sie stattdessen unvermittelt am Handgelenk und schiebt ihren blutigen Ärmel hoch. Willow wird feuerrot. Wenn sie nackt vor ihm stehen und er ihre Brüste anstarren würde, würde sie sich nicht mehr entblößt fühlen. Sie spürt, wie sich sein Blick entsetzt über die älteren Wunden und die frisch verschorften tastet, über das blutende Fleisch und die hässlichen, bereits vernarbten Stellen.
Er hebt den Kopf und schaut sie an. In seinem Gesicht spiegeln sich gleichzeitig Schock und Abscheu wider. Sie hält seinem Blick stand. Keiner von ihnen sagt ein Wort. Sie lässt den Arm sinken. Das Schlimmste ist vorbei. Vielleicht kann sie ja jetzt einfach gehen. Denn mal ehrlich, was kann er schon machen? Aber als sie sieht, wie er langsam vor ihr zurückweicht, als sie sieht, wie der entsetzte Ausdruck auf seinem Gesicht von fester Entschlossenheit abgelöst wird, versteht sie, dass er doch etwas tun kann, etwas, von dem er sich offensichtlich nicht abbringen lassen wird, etwas, das so schrecklich ist, dass ihr bei dem Gedanken die Beine weich werden.
Er kann es David erzählen.
Plötzlich dreht Guy sich um und rennt los.
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