Bis unter die Haut
»Hast du eine Ahnung, was das mit ihm machen würde? Es würde ihm das Herz brechen.«
Einen Moment lang fragt sie sich, ob das vielleicht sogar stimmt. Sie ist sich zwar sicher, die Liebe ihres Bruders verloren zu haben, aber das bedeutet nicht, dass er nicht trotzdem alles in seiner Macht Stehende tun würde, um sie zu beschützen. Dass er sich nicht trotzdem darüber freut, sie mit Guy zu sehen und darauf hoffen zu können, dass sie es schafft, ihr Leben weiterzuleben. Vor allem bedeutet es nicht, dass es seine Welt nicht noch mehr erschüttern würde, wenn er erfahren würde, wie schlecht es ihr geht. Sie kann nicht zulassen, dass Guy ihm das antut.
Guy sieht schon ein bisschen weniger entschlossen aus als noch vor ein paar Minuten. Er wirft ihr einen kurzen Blick zu und sieht dann wieder weg.
»Es wird ihm das Herz brechen«, wiederholt Willow eindringlich.
»Aber für dich wäre es vielleicht gut. Irgendjemand muss dir helfen. Du wirst dich noch …« Guy verstummt und sieht zu Boden.
»Umbringen?«, beendet sie den Satz für ihn. »Keine Sorge, das hab ich nicht vor.«
»Ach so? Na, dann ist ja alles bestens.« Er wirft ihr einen finsteren Blick zu. »Hey, was ist schon dabei, sich selbst zu verstümmeln …«
»Das kannst du von mir aus sehen, wie du willst, aber wie kommst du darauf, dass ich damit aufhören würde, wenn du es meinem Bruder erzählst?«
»Würdest du nicht?«
»Ganz bestimmt nicht.« Willows Stimme ist schneidend. »Ganz bestimmt nicht «, wiederholt sie. »Damit würdest du ihn nur so aus der Bahn werfen, dass … Ich weiß nicht, was passieren würde, ich kann es dir wirklich nicht sagen, aber glaub mir, es wäre schrecklich. Er hat schon zu viel durchgemacht. Noch mehr erträgt er einfach nicht. Du würdest rein gar nichts damit erreichen, weil ich es nämlich ernst meine. Es wird mich nicht dazu bringen, aufzuhören, wenn du es ihm erzählst.«
»Und was soll ich dann tun?« Er sieht sie wütend an.
»Das ist mir egal. Aber du darfst es ihm auf keinen Fall sagen.« Als sie hört, wie die Tür zu Davids Büro aufgeht, lehnt sie sich an die Wand, atmet tief durch und versucht, sich zusammenzureißen.
»Da bin ich wieder. Und, was verschafft mir die Ehre eures Besuchs?«, fragt David lächelnd.
Guy kommt auf die Füße und zieht sie mit sich hoch. Er scheint ein bisschen wacklig auf den Beinen und umklammert ihre Hand fester, als ihm vermutlich bewusst ist.
Willow steht vollkommen regungslos da. Sie hat getan, was sie tun konnte. Jetzt hängt es allein von ihm ab.
»Ich wollte …« Guy hält inne und sieht zwischen Willow und David hin und her. »Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie schon wissen, welche Seminare Sie im nächsten Semester anbieten«, murmelt er schließlich.
Nicht übel.
Verstohlen wirft Willow ihm einen anerkennenden Blick zu. Solange er sie nicht auffliegen lässt, ist es ihr zwar egal, was er David erzählt, aber sie bezweifelt, dass sie in der Lage gewesen wäre, sich auf die Schnelle so eine plausible Erklärung einfallen zu lassen.
Plötzlich wird ihr bewusst, was passiert ist.
Er hat sie nicht verraten.
Sie ist so unglaublich erleichtert, dass sie weiche Knie bekommt. Ohne Guys festen Griff würde sie auf der Stelle umfallen.
»Du überschätzt mich ein bisschen, wenn du wirklich glaubst, dass ich jetzt schon weiß, was ich nächstes Semester durchnehme.« David lacht. »Ich komme ja mit den aktuellen Vorlesungen schon kaum hinterher. Aber lass uns doch in mein Büro gehen, dann erzähl ich dir, was mir so ungefähr vorschwebt, und kann dir vielleicht ein paar Tipps geben, welche Vorlesungen für dich interessant sein könnten. Meine Schwester hat mir erzählt, dass du nächstes Jahr Anthropologie im Hauptfach studieren willst.«
Willow hebt verlegen den Blick zur Decke und räuspert sich leise.
Aber Guy scheint überhaupt nicht mitbekommen zu haben, was David gesagt hat. Offenbar hat er noch nicht ganz verarbeitet, was innerhalb der letzten halben Stunde alles passiert ist. Sie folgen David gemeinsam in das kleine Büro.
»Ich finde es toll, dass du dich für mein Fachgebiet entschieden hast.« David setzt sich an seinen Schreibtisch und bedeutet ihnen, auf der Couch Platz zu nehmen. »Trotzdem solltest du jetzt schon darüber nachdenken, welche anderen Fächer du noch studieren willst.« Er hält kurz inne und blättert in ein paar Unterlagen, die auf seinem Tisch liegen.
Willow sitzt neben Guy auf der Couch. In ihrem ganzen Leben hat sie
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