Bis unter die Haut
gekommen ist. Sie wird sich bestimmt nicht bei ihm bedanken oder überhaupt mit ihm reden. Sie hat ihre Lektion gelernt.
Trotzdem versetzt es ihr einen kleinen Stich, als sie ihn davonschlendern sieht. In den letzten sieben Monaten ist er der einzige Mensch gewesen, der nicht mit einem unbedachten oder unsensiblen Kommentar darauf reagiert hat, dass ihre Eltern tot sind.
Und auch der Einzige, mit dem sie sich über Traurige Tropen unterhalten hat.
KAPITEL FÜNF
Kann sie nicht ein bisschen leiser reden? , denkt Willow, als sie sich auf der großen Wiese des Uni-Campus auf den Bauch dreht und die Nase noch ein bisschen tiefer in Bulfinch steckt – das Buch, mit dem sie sich weiterhin herumquält. Wenigstens hat sie noch zwei Wochen Zeit, bis sie die Arbeit abgeben muss. Normalerweise müsste das reichen, aber, was ist zurzeit schon normal? Und das Geplapper dieses Mädchens macht es auch nicht einfacher, damit voranzukommen.
»Dabei hat er gesagt , dass er anrufen würde …«
Willow versucht, die Stimme auszublenden. Zwecklos. Sie ist nach der Schule hergekommen, weil sie gehofft hat, sich hier besser auf das Buch konzentrieren zu können, aber stattdessen wird sie ständig von irgendetwas abgelenkt. Zweimal hat sie schon umziehen müssen, um nicht von einer Frisbeescheibe getroffen zu werden, und als sie sich dann schließlich auf diesem Fleckchen hier niedergelassen hat, hat sich diese Studentin direkt neben sie gesetzt, ihr Handy gezückt und angefangen, total laut zu telefonieren.
»Das ist jetzt schon zwei Tage her! Andererseits musste er super viel für diese Prüfung büffeln, und du weißt ja selbst, wie stressig so was ist. Wahrscheinlich ruft er deswegen …«
Willow klappt seufzend ihr Buch zu. Jeder Versuch, weiterzulesen, wäre sinnlos. Lieber belauscht sie das Mädchen noch ein bisschen, das verspricht zumindest ein wenig Unterhaltung.
Plötzlich fühlt sie sich entsetzlich einsam. Sie wünscht sich, sie könnte mit Markie reden, wünscht sich, sie wäre in der Lage, mit Markie zu reden. Vor sieben Monaten hätte das ein Gespräch zwischen ihnen beiden sein können. Nachdem sie bis ins kleinste Detail erörtert hätten, warum der Typ noch nicht angerufen hat, hätten sie sich eingehend mit dem Thema Hautpflege befasst und …
»Du solltest mal meine Haare sehen, die sind total spröde …«
Okay, Haar-, nicht Hautpflege, passt aber auch. Ein winziges Lächeln stiehlt sich auf Willows Gesicht.
»Ich hab mir selbst Strähnchen gemacht, die volle Katastrophe, sag ich dir!«
Katastrophe? Willow setzt sich auf und starrt das Mädchen ungläubig an. Ist das ihre Vorstellung von einer Katastrophe?
Sie würde ihr gern mal ein paar Fotos von dem Autounfall zeigen.
Vielleicht hätte sie doch lieber in der Schule bleiben sollen. Aber ist das hier wirklich so viel schlimmer, als Claudia und Laurie dabei zuzuhören, wie sie sich über die Ergebnisse ihrer Uni-Zulassungstests unterhalten? Wenigstens erwartet hier niemand von ihr, dass sie sich dazusetzt; außerdem ist sie gern auf dem Campus. Früher ist sie ständig hier gewesen und hat auf der Wiese gesessen und gelesen, während sie darauf wartete, dass die Vorlesungen ihrer Eltern zu Ende waren. Danach hatten sie David und Cathy abgeholt und waren zusammen essen gegangen.
Willow schüttelt den Kopf. Wie dumm von ihr zu denken, sie würde sich hier noch so wohlfühlen wie früher. Nichts ist mehr so wie früher. So einer Unterhaltung zuzuhören ist für sie, als würde sie durch ein Fenster in ihre Vergangenheit blicken. Der Aufprall, das in einem unnatürlichen Winkel abstehende Schlüsselbein ihrer Mutter, ihre eigenen vom Blut ihres Vaters durchtränkten Haare. Das alles ist vollkommen unfassbar. Aber wenn sie belanglose Dinge hört, alltägliche Nichtigkeiten, dann bricht sie innerlich jedes Mal zusammen. Und jetzt will sie nur noch eins. Sie wühlt in ihrem Rucksack.
Natürlich hat sie alles dabei, was sie braucht. Sie würde das Haus niemals ohne ihre Hilfsmittel verlassen. Aber sie muss vorsichtig sein, sich disziplinieren. Wenn sie es zu oft macht, könnte sie sich in Schwierigkeiten bringen. Mit jedem Mal wird das Risiko größer, dass jemand es herausfindet, dass sich eine der Wunden entzündet oder sie zu viel Blut verliert. Vielleicht muss sie anfangen, sich ihre Dates mit der Rasierklinge einzuteilen. So wie andere Mädchen aufpassen müssen, nicht zu viel Schokolade zu essen.
Es ist unglaublich schwer, keine Spuren zu hinterlassen.
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