Bis unter die Haut
Wie zum Beispiel vor ein paar Tagen, als sie gesehen hat, wie David weint. Nachdem sie später endlich eingeschlafen war, war sie plötzlich mit dem Gefühl hochgeschreckt, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie hatte sich über eine halbe Stunde lang hin und her gewälzt und sich das Hirn zermartert, bis ihr eingefallen war, dass sie vergessen hatte, das Blut wegzuwischen, das von ihrem Arm auf die Treppe getropft war.
Was wäre passiert, wenn es ihr nicht noch rechtzeitig eingefallen wäre? Wenn Cathy es am nächsten Morgen entdeckt hätte?
Das Mädchen mit dem Handy macht Anstalten zu gehen. Willow bleibt es erspart, ihr noch weiter zuhören zu müssen. Aber jetzt spielt es sowieso keine Rolle mehr. Es ist zu spät.
»Hey, wie geht’s?«
Willow fährt erschrocken zusammen. Sie zieht hastig die Hand aus dem Rucksack, als hätte sie jemand beim Klauen erwischt. Ihr Herz hämmert in ihrer Brust.
Es ist Guy. Natürlich ist es Guy. Wer sonst? Außer ihm gibt es niemanden, der sie auf dem Uni-Gelände ansprechen würde.
»Hi.« Sie rappelt sich hoch und wischt sich die verschwitzten Hände an der Jeans ab.
»Willst du zur Bibliothek rüber?«
»Nein.« Willow schüttelt den Kopf. »Ich arbeite heute nicht.«
»Ach so, dann bist du wahrscheinlich mit deinem Bruder verabredet?«
»Ich … nein.« Fast hätte sie bitter aufgelacht. Seit jener Nacht tut sie alles, um David aus dem Weg zu gehen.
»Aha.« Er denkt einen Moment lang nach. »Dann bist du bloß hergekommen, um in Ruhe zu lesen? Ich mach das auch immer. Irgendwie fällt es mir hier leichter, mich zu konzent rieren als in der Schule.« Er lässt sich neben sie ins Gras fallen. Dann streckt er sich aus, bettet den Kopf auf seinen Rucksack und legt einen Arm übers Gesicht, um die Augen vor der Sonne abzuschirmen.
Willow weiß nicht, was sie darauf antworten soll. Sie überlegt fieberhaft, wie sie so schnell wie möglich von hier verschwinden kann, um ihre Verabredung mit der Rasierklinge einzuhalten.
» Bulfinch ?« Guy greift nach dem Buch. »Musst du das für Mythen und Helden lesen? Den Kurs hab ich letztes Jahr besucht.« Er fängt an, darin zu blättern. »Mir hat er ganz gut gefallen, obwohl es nicht unbedingt mein Lieblingskurs war. Die klassischen Sagen des Altertums sind schon cool, aber Bulfinch ? Ziemlich trocken irgendwie, findest du nicht?« Sein Lächeln strahlt mit der Sonne um die Wette. »Wer unterrichtet den Kurs dieses Jahr?«
Er redet so ungezwungen, als hätten sie sich schon zigmal unterhalten. Als wären sie befreundet.
Sie sollte sich einfach wieder ins Gras setzen und ein bisschen mit ihm quatschen. Es gibt keinen echten Grund, es nicht zu tun. Es hatte Spaß gemacht, sich im Magazin mit ihm zu unterhalten, jedenfalls bis die Stimmung dann gekippt war. Was wäre so schlimm daran, mit ihm über Bulfinch zu reden, über die Schule oder vielleicht auch über irgendwelche andere Themen?
Aber Willow hat bereits entschieden, dass es zu gefährlich ist. Wenn sie sich wirklich auf ein Gespräch mit ihm einlässt, wenn sie sich ihm öffnet, dann sagt er vielleicht etwas, das genauso ungeschickt, taktlos und schmerzhaft ist wie das, was Vicky neulich zu ihr gesagt hat.
Nein. Es wird keine Unterhaltung geben. Weder über Bulfinch noch über irgendetwas anderes.
Außerdem hat sie Wichtigeres zu tun.
»Ähm, tut mir leid … aber ich … ich hab’s ziemlich eilig.« Sie greift nach ihrem Rucksack.
»Ach komm schon, jetzt bleib doch noch. Wenn du gehst, kann ich mich nicht länger ums Lernen herumdrücken, und irgendwie ist mir grade nach ein bisschen Prokrastinieren. Pass auf.« Guy dreht sich auf die Seite und stützt sich auf den Ellbogen. »Wenn du bleibst, dann besorg ich dir in dem Café, von dem ich dir neulich erzählt hab, den weltbesten Cappuccino, okay?« Er greift nach einem der Gurte an ihrem Rucksack und versucht, sie zu sich herunterzuziehen.
»Ich kann nicht!«, ruft Willow fast panisch. Sie will sich losreißen, aber Guy zieht stärker und sie stolpert und fällt beinahe auf ihn.
»Oops. Tut mir leid!« Er fährt hoch, um sie aufzufangen, und packt sie an beiden Armen. Sein Griff ist fester, als ihm wahrscheinlich klar ist, und sie zuckt vor Schmerz zusammen, als sich seine Hände um ihre frischen Wunden schließen.
»Alles okay?«, fragt er stirnrunzelnd.
»Ja, nichts passiert.« Aber das stimmt nicht. Die Schnitte hatten noch keinen Wundschorf gebildet, sodass sie unter seinem festen Griff sofort wieder
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