Bis unter die Haut
macht«, behauptet sie, ohne Guy und Vicky dabei anzusehen. »Ich wollte das Gewicht justieren und plötzlich, na ja …« – sie deutet auf die Scherben und die Pfütze auf dem Boden –, »… irgendwie sind dabei die Gläser runtergefallen …«
Ihr ist nicht so ganz klar, warum sie Vicky beispringt. Vielleicht weil sie weiß, dass sie als Neue nichts zu befürchten hat? Dass Mr Moston ihretwegen schon besorgt genug ist und sie nicht noch zusätzlich in Schwierigkeiten bringen wird? Vielleicht aber auch, weil sie, wenn sie ganz ehrlich ist, nicht wirklich Verachtung für Vicky empfindet.
Sondern Neid.
Denn wenn sie jetzt darüber nachdenkt, wirklich darüber nachdenkt, fragt sie sich, was eigentlich so verachtenswert daran sein soll, dass die größte Katastrophe in Vickys Leben ein paar zerbrochene Gläser sind. Eigentlich ist es normal. Eigentlich ist es genau so, wie es sein sollte.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte auch sie das noch als mittlere Katastrophe empfunden …
»Schon gut.« Mr Moston nickt zögernd. »Aber überlassen Sie das Aufwischen lieber jemand anders, Willow. Nicht dass Sie sich noch an den Scherben verletzen. Am Bein haben Sie sich ja anscheinend schon geschnitten.«
Willow erstarrt. Sie muss die Wunde noch weiter aufgerissen haben, als sie dachte. Hoffentlich schickt er sie nicht ins Krankenzimmer. »Ach, das … Das ist nichts, wirklich. Ich bin nur … ähm … beim Rasieren abgerutscht«, stottert sie und wird augenblicklich knallrot.
Beim Rasieren??
»Aha.« Mr Moston wirkt skeptisch. »Trotzdem. Ich will nicht, dass sich irgendjemand verletzt. Ich gebe dem Hausmeister Bescheid, dass er sich darum kümmern soll.« Er sieht Guy an, der ihm den Laborbericht hinhält. »Danke, Guy! Sagen Sie mal, hätten Sie gerade ein paar Minuten Zeit? Ich bräuchte nämlich jemanden, der mir hilft, ein paar schwere Geräte herzutragen. Ich will natürlich nicht, dass Sie zu spät zu Ihrem nächsten Kurs kommen, aber …«
»Kein Problem«, antwortet Guy, aber Willow spürt, dass er dabei nicht den Physiklehrer ansieht, sondern sie. »Ich hab jetzt sowieso eine Freistunde.«
Die beiden gehen aus dem Raum und lassen Willow und Vicky wieder allein.
»Ich fasse es nicht, dass du das gerade gemacht hast«, sagt Vicky. In ihren Augen leuchtet so etwas wie Heldenverehrung auf.
Willow hat die Schuld nicht auf sich genommen, um von diesem Mädchen bewundert zu werden. Aber als sie in Vickys erleichtertes Gesicht blickt, fällt es ihr schwer, sich nicht wenigstens ein kleines bisschen gut zu fühlen … Es ist ziemlich lange her, dass jemand sie ganz ohne Mitleid angeschaut hat.
»Kein Problem«, winkt Willow ab. »Ich hab gewusst, dass ich keinen Ärger kriege.« Sie lächelt Vicky an und geht zu ihrem Platz zurück.
»Ach so, na klar, stimmt.« Vicky folgt ihr. »Du hast bei ihm auch noch nicht so verkackt wie ich, und außerdem würde Moston dir niemals das Leben schwermachen. Du tust ihm bestimmt total leid, weil du, na ja, du weißt schon … weil du keine Eltern mehr hast.«
»Wie bitte?« Willow will in ihrer Tasche nach einem Pflaster suchen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf ihr blutendes Bein zu ziehen, hält dann aber mitten in der Bewegung inne und dreht sich zu Vicky um.
»Na ja, du bist doch Waise, oder? Deine Eltern sind letztes Jahr gestorben, hab ich gehört. Da kannst du garantiert noch bis zum Abschluss auf den Mitleidsbonus zählen.«
Willow fühlt sich wie geohrfeigt. Vickys fast schon beiläufig hingeworfener Satz lässt das kleine Hochgefühl schlagartig verpuffen. Vicky hat sie genau in die gleiche Schublade gestopft wie alle anderen.
Mr Moston und Guy kommen mit Gerätschaften beladen und von ein paar Schülern gefolgt in den Raum zurück. Der Unterricht fängt gleich an.
Willow beobachtet Guy, wie er Mr Moston hilft, die Sachen aufzubauen, und denkt darüber nach, wie er auf das, was sie ihm erzählt hat, reagiert hat.
Er war blass geworden. Aber er hatte keine abgedroschenen Phrasen von sich gegeben. Und auch keine unsensiblen Kommentare wie Vicky eben. Es gab dazu nichts zu sagen, und er war klug genug gewesen, das zu wissen. Am liebsten würde sie sich bei ihm dafür bedanken.
Er geht an ihr vorbei und ihre Blicke treffen sich. Willow spürt, wie sie schon wieder rot wird, auch wenn ihr nicht so richtig klar ist, warum eigentlich. Er kann schließlich unmöglich wissen, woran sie gerade denkt. Aber dann verebbt das Gefühl genauso schnell wieder, wie es
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