Bis unter die Haut
…
Willow weiß, dass David auf eine Antwort wartet. Vielleicht sollte sie ihm einfach erzählen, was er hören will. Im Grunde genommen ist es doch genau das, wonach sie neulich beim Abendessen so verzweifelt gesucht hat – etwas, das sie sagen oder tun könnte, um ihn glücklich zu machen. Warum also nicht einfach die Gelegenheit beim Schopf packen? Sich irgendeine Geschichte ausdenken? Es wäre nicht das erste Mal. Sie hat David ja auch erzählt, dass Guy ihr gesagt hätte, er wolle nur seinetwegen Anthropologie studieren. Aber dieses Mal bringt sie es nicht über sich zu lügen; der wahre Grund, weshalb sie und David tatsächlich gestern bei ihm im Büro aufgetaucht sind, ist einfach zu weit von dem entfernt, was David vielleicht gerne hören würde.
»Nein. Ich sehe ihn nicht besonders oft«, antwortet sie nach einer kleinen Weile. »Er ist wegen der Seminare, die er besucht, oft an der Uni, und nachdem wir uns in der Bibliothek kennengelernt haben, bin ich ihm nur noch ein- oder zweimal zufällig begegnet. Mehr ist da nicht. Du kannst die Spürhunde also wieder zurückrufen.«
»Verstehe«, sagt David langsam.
Ihre Worte hatten schärfer geklungen als beabsichtigt. Dabei wollte sie ihn doch nur davon abhalten, noch mehr neugierige Fragen zu stellen. Sie vermeidet es, ihn anzusehen, und beugt sich tief über ihre Müslischale. Doch sie spürt, wie sein nachdenklicher Blick auf ihr verharrt, bevor er sich wieder seinem Frühstück zuwendet.
Sie fühlt sich furchtbar, aber was soll sie denn tun? Zu ihrer unendlichen Erleichterung kommt in diesem Moment Cathy in die Küche. Sie hat sich schon für die Arbeit fertig gemacht und trägt Isabelle auf dem Arm, die sie gleich in die Kita bringt.
»Wir sind dann weg«, sagt sie und gibt David einen Kuss auf die Wange.
»Oh, hey, Cath.« David blickt auf. »Sag mal, weißt du zufällig, wo meine alten Ausgaben von American Anthropology sind? Ich kann sie nämlich nirgends finden.«
»Müssten die nicht in deinem Arbeitszimmer liegen?«
Peinliches Schweigen entsteht, während jeder von ihnen daran denkt, dass David kein Arbeitszimmer mehr hat.
»Ach ja, stimmt«, erwidert David schließlich.
»Erinnerst du dich, wir haben sie in Kartons verstaut, als wir die Regale für Willow freigeräumt haben, und sie dann unters Bett geschoben.«
Cathy schmiegt das Gesicht in Isabelles Haare und gibt ihr einen Kuss. Es ist eine ganz selbstverständliche Geste, aber Willow fragt sich, ob sie das nur tut, um sie nicht ansehen zu müssen.
»Du hast recht. Das hatte ich völlig vergessen.« David steht auf und klemmt sich die Fachzeitschrift unter den Arm. »Dann werde ich sie mir mal holen.«
Cathy wirft ihm eine Kusshand zu, während sie auf die Tür zugeht. »Bis später, Willow«, ruft sie über die Schulter, bevor sie das Haus verlässt.
»Bis später«, ruft Willow zurück.
Sie hört, wie David ein Stockwerk über ihr die Kartons unter dem Bett hervorzieht. Es gibt keinen Grund, nervös zu werden. Da ist nichts. Unter dem Bett ist gefahrenfreie Zone.
Aber was ist, wenn David seine Suche nicht auf diesen Bereich beschränkt?
Willow bricht kalter Schweiß aus. Sie hat zwar nichts unter dem Bett versteckt, aber das heißt nicht, dass das Gleiche auch für ihre Matratze gilt. In alter Teenagertradition hat sie getan, was schon unzählige Mädchen vor ihr getan haben, nur dass es in ihrem Fall keine Liebesbriefe sind, die sie darunter geschoben hat.
Eigentlich müsste sie schnell nach oben gehen und ihn irgendwie ablenken, damit er nichts findet. Aber ihr fehlt die Energie, vom Tisch aufzustehen. Einen Augenblick lang spielt sie mit dem Gedanken, einfach sitzen zu bleiben, die Entscheidung dem Schicksal zu überlassen. Vielleicht ist es am besten so. Schließlich ist es sowieso nur eine Frage der Zeit. Kann sie sich wirklich darauf verlassen, dass Guy ihr Geheimnis für sich behält?
Sie fragt sich, wie es wäre, ohne die Rasierklingen zu leben, wie ihr Bruder reagieren würde, wenn er es herausfände. Und dann hält sie nichts mehr. Sie springt vom Stuhl auf, rast immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf und bleibt außer Atem vor ihrem »geliehenen« Zimmer stehen. Stumm sieht sie zu, wie ihr Bruder einen verstaubten Karton nach dem anderen unter ihrem Bett hervorzieht.
So weit ist alles in Ordnung. Er ist darin vertieft, die Bücher und Fachzeitschriften zu sortieren. Warum sollte er auch auf die Idee kommen, ausgerechnet unter ihrer Matratze
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