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Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Hoban
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nachempfinden, also komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen guten Ratschlägen.« Sie befreit ihren Arm aus seinem Griff. So heftig, dass ein paar der Schnitte sofort wieder zu bluten beginnen.
    »Geht’s vielleicht auch ein bisschen vorsichtiger?«, schimpft er, während er seinen Rucksack durchwühlt. »Hier.« Er wirft ihr ein paar Pflaster, eine kleine Flasche Desinfektionsmittel und steril verpackte Wattepads in den Schoß.
    Willow sieht ihn erstaunt an. Es ist eine Sache, dass sie so etwas mit sich herumschleppt …
    »Ich bin in der Rudermannschaft«, erklärt Guy. »Wir trainieren dreimal die Woche frühmorgens. Jedenfalls holt man sich dabei regelmäßig Blasen, und wie du dir bestimmt denken kannst, vertragen sich offene Wunden nicht so toll mit dreckigem Flusswasser.«
    Sie nickt. Soll sie ihren Arm vor ihm verarzten und diese qualvolle Begegnung noch weiter in die Länge ziehen? Das Klügste wäre wohl, einfach aufzustehen und abzuhauen. Den Job in der Bibliothek zu kündigen, ihm in der Schule aus dem Weg zu gehen. Ihn niemals wiederzusehen.
    »Na los, mach schon«, sagt er und zeigt auf das Verbandszeug.
    Die Vorstellung, die Wunden vor seinen Augen zu säubern, ist ihr unangenehm und erscheint ihr so intim, als wenn sie sich vor ihm ritzen sollte. Ha, ha! Vor ein paar Minuten wolltest du noch mit ihm ins Bett steigen!
    Seufzend dreht sie den Verschluss des Desinfektionsmittels auf und träufelt etwas davon auf ein Wattepad. Eigentlich müsste sie darin mittlerweile Profi sein, trotzdem bereitet es ihr einige Schwierigkeiten. Zum einen, weil sie Rechtshänderin ist und der Schnitt, den es am dringendsten zu verarzten gilt, sich auf ihrem rechten Arm befindet, und zum anderen, weil die Ereignisse des Nachmittags sie nun endgültig eingeholt haben. Sie ist am Ende ihrer Kräfte. Einen Moment lang tupft sie halbherzig auf dem Schnitt herum, dann lässt sie die Hand mit dem Wattepad in den Schoß sinken und schließt die Augen. Sie ist nur noch erschöpft.
    Sie lehnt sich gegen die Rückenlehne der Bank und spielt mit dem Gedanken, einfach hier einzuschlafen und die letzten anderthalb Stunden aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen, als sie plötzlich Guys Hand auf ihrem Arm spürt.
    Sie öffnet die Augen. Was hat er jetzt schon wieder vor – noch eine Konfrontationstherapie? Oder will er ihr eine Strafpredigt über ihren mangelnden Sinn für Hygiene halten? Aber anscheinend ist sein Diskussionsbedarf vorläufig gedeckt. Er konzentriert sich ganz auf ihren Arm und untersucht die Verletzungen, die sie sich selbst beigebracht hat. Sie beobachtet durch halb geschlossene Lider, wie er das Wattepad nimmt und den Schnitt behutsam abtupft. Er hat wunderschöne Hände, sie sind groß und kräftig und doch ganz sanft. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so berührt wurde. Er desinfiziert ein paar der frischeren Wunden, legt ihr geschickt einen Verband an, bevor er den Ärmel ihres Shirts wieder herunterzieht, und ist dabei vorsichtiger, als sie selbst es gewesen wäre.
    Während der ganzen Zeit haben sie geschwiegen. Und jetzt, da sie eigentlich das Gefühl hat, dass sie sich bei ihm bedanken sollte – und zwar nicht nur dafür, dass er ihre Wunden versorgt, sondern auch dafür, dass er sie nicht verraten hat –, findet sie einfach nicht die Worte dazu. Auch Guy sieht aus, als würde er etwas sagen wollen, wüsste aber nicht, wie oder was. Und so sitzen sie einfach nur da und schauen sich unverwandt an, während die Dämmerung hereinbricht und sie in ihre immer länger werdenden Schatten hüllt.

KAPITEL SECHS
    Willow beobachtet ihren Bruder verstohlen, während sie ihr Müsli isst. In der einen Hand hält er eine Tasse Kaffee, in der anderen eine wissenschaftliche Fachzeitschrift. Er scheint völlig in seine Lektüre vertieft zu sein, aber sie sieht, dass er fast am Ende des Artikels angekommen ist, und fürchtet sich vor dem, was passieren wird, wenn er ihn zu Ende gelesen hat.
    Und tatsächlich – ein paar Sekunden später legt David die Zeitschrift beiseite und wendet sich ihr zu.
    »Und, ist das was Ernstes zwischen dir und Guy? Siehst du ihn oft? Soweit ich es beurteilen kann, ist er sehr nett und auch verantwortungsbewusst …«
    Ihr Leben kommt ihr plötzlich vor wie einer dieser viktorianischen Romanklassiker. Sie ist Waise. Sie lebt im Dienst botenzimmer unterm Dach. Und ihr Bruder ist nur einen Atemzug davon entfernt, sie zu fragen, ob Guys Absichten denn auch ehrenvoller Natur sind

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