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Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Hoban
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nachzuschauen? Sie beschließt, trotzdem kein Risiko einzugehen und im Zimmer zu bleiben.
    Willow geht auf den Spiegel an der Wand zu und beobachtet darin, wie David in einem der alten Bücher blättert. Ihr Blick fällt auf die Zeitschrift, die er vorhin gelesen und jetzt auf der Kommode abgelegt hat. Sie greift danach und blättert lustlos darin herum – es geht um Bestattungsrituale der alten Griechen. Sie will sie gerade wieder zurücklegen, als sie zwischen den Seiten ein gefaltetes Blatt Papier entdeckt, von dem ihr der dicke schwarze Briefkopf ihrer Schule entgegenspringt.
    Das kann nur eines bedeuten. David wird zu einem Gespräch bei der Schulleitung zitiert. Jemand muss von ihrem Geheimnis erfahren haben. Ihre Finger zittern, als sie, ihren Bruder im Spiegel weiter im Auge behaltend, den Brief auffaltet und ihn liest.
    Aber es ist nichts dergleichen. Es handelt sich lediglich um ein Infoschreiben, in dem die Eltern beziehungsweise die Erziehungsberechtigten dazu aufgefordert werden, einen Termin für den Elternsprechtag zu vereinbaren, um sich dort unter anderem über die Vorbereitungskurse für die Uni-Zulassungstests zu informieren … Blablabla …
    Genau der gleiche Mist, über den sich Claudia und die anderen neulich unterhalten haben. Nichts von Bedeutung.
    Verstohlen steckt sie den Brief zwischen die Seiten der Zeitschrift zurück.
    »Es tut mir leid, David.« Sie dreht sich vom Spiegel weg.
    »Leid?«, fragt er und runzelt die Stirn, während er weiter in den Kartons stöbert. »Was denn?«
    »Dass ich …« Sie verstummt. Was soll sie sagen? Dass es ihr leidtut, sein Leben ruiniert zu haben? In jener Nacht am Steuer gesessen zu haben? Was kann sie sagen, das auch nur annähernd zum Ausdruck bringen würde, was sie fühlt?
    Vielleicht sollte ich ihn einfach fragen, ob er eine Katze hat!
    Sie könnte ihm sagen, dass es ihr leidtut, dass er fünf zehn Jahre früher als geplant einen Elternsprechtag besuchen muss. Das wäre vielleicht etwas, wofür sie sich entschuldigen könnte, ohne dass es zu pathetisch klingt. Das Problem ist nur, dass sie davon ja offiziell nichts weiß.
    Jede Unterhaltung mit ihrem Bruder gleicht mittlerweile dem Überqueren eines Minenfelds. Bei jedem Schritt muss sie aufpassen, nicht in eine der Fallen zu treten.
    »Hey, schau mal hier!« David zieht ein schmales blaues Buch aus einem der Kartons. »Das hatte ich schon völlig vergessen«, murmelt er und pustet ein bisschen Staub vom Einband. Willow erkennt es als eines der Bücher ihres Vaters. David legt es neben sich auf den Boden und schiebt den Karton wieder unters Bett. »Was wolltest du gerade sagen?«, fragt er und steht auf.
    »Ach, nichts«, sagt Willow traurig und nimmt ihr Sweatshirt und ihren Rucksack vom Stuhl. Sie muss los, sonst kommt sie zu spät zur Schule. In der Tür bleibt so noch einmal kurz stehen und blickt zu David zurück. »Ich hab nichts zu sagen.«
    Und das ist wenigstens die Wahrheit.
    Willow ist sich sicher, dass sie für einen Außenstehenden aussieht wie eine vorbildliche Schülerin. Ihr Stift fliegt über die Seiten und notiert jedes Wort, das der Lehrer von sich gibt. Sie ist eine wahre Meisterin darin geworden, den Eindruck einer aufmerksamen Zuhörerin zu vermitteln, während ihre Gedanken Lichtjahre entfernt sind. Und nicht nur das, sie weiß sogar, an welchen Stellen sie nicken muss, um ernsthaftes Interesse vorzutäuschen …
    In Wirklichkeit bekommt sie kaum etwas mit. Eigentlich sogar gar nichts. Sie könnte genauso gut auf einem anderen Planeten sein.
    Sie kann sich nicht mit unregelmäßigen Verben oder griechischer Mythologie befassen. Ihre Gedanken sind woanders. Sie ist hin und her gerissen zwischen der Erleichterung darüber, dass David ihr Versteck nicht gefunden hat, und der Angst, dass Guy sie früher oder später doch verraten wird.
    Sie hat ihn heute noch nicht gesehen. Was eigentlich nicht weiter verwunderlich ist, da sie keine Kurse gemeinsam mit ihm hat, aber sie muss dringend mit ihm reden. Muss herausfinden, wie es weitergeht. So ganz hat sie es immer noch nicht verinnerlicht, dass jetzt jemand über sie Bescheid weiß.
    Sie blickt überrascht auf, als um sie herum alle aufstehen und ihre Sachen einpacken. Es muss gegongt haben. Sie kann nicht anders, als verstohlen in sich hineinzugrinsen. Wie pflichtbewusst sie aussehen muss, wenn sie selbst nach dem Gong noch dasitzt und sich eifrig Notizen macht …
    Schluss damit. Sie klappt ihr Heft zu und steckt es in ihren

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