Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Hoban
Vom Netzwerk:
liebsten würde sie zu dem, das sie gleich schreiben wird, auch noch etwas Passendes malen, aber es würde zu lange dauern, bis es trocken ist, und außerdem hat sie es viel zu eilig, zu ihm ins Bett zurückzukriechen. Sie schleicht zu seinem Rucksack und zieht so leise wie möglich den Reißverschluss auf, dann nimmt sie den Sturm heraus, schlägt die Titelseite auf und setzt ohne zu zögern den Stift an.
    Für Guy,
Oh schöne neue Welt, die so einen Einwohner hat …

KAPITEL DREIZEHN
    Im ersten Moment glaubt Willow, dass es ein Albtraum war, der sie so plötzlich geweckt hat. Dann schiebt sie es auf die nächtlichen Verkehrsgeräusche, die durch das Fenster gedrungen sein müssen. Aber als sie auf die mondbeschienene Straße hinunterschaut, ist weit und breit kein Wagen zu sehen. Es herrscht nahezu absolute Stille.
    Sie ist es gewohnt, mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu schrecken, aber dieses Mal scheint irgendetwas daran anders zu sein. Sie setzt sich auf ihr Bett, schlingt die Arme um die Knie und legt ihr Kinn darauf.
    Was war das?
    Ihr Kopf ruckt bei dem Geräusch nach oben, das zwar schwach, aber unverkennbar ist.
    Oh.
    Jetzt weiß sie, was sie so plötzlich aus dem Schlaf gerissen hat. Jemand anderen hätte es mit Sicherheit nicht aufgeweckt, dafür ist es viel zu leise, aber ihr dringt das Geräusch mitten ins Herz. Ihr Bruder weint wieder.
    Sie schwingt die Beine aus dem Bett und greift nach ihrem Bademantel. Sie tut es nicht mit der Absicht, ihrem Bruder zu helfen, sie wüsste ja noch nicht einmal, wie. Außerdem wäre es ihm sicher furchtbar unangenehm, wenn sie ihn so findet. Trotzdem kann sie nicht einfach im Bett liegen bleiben, wenn ihr Bruder weint und sie schuld an seinen Tränen ist.
    Sie schleicht vorsichtig die Treppe hinunter und hält auf jeder Stufe kurz inne, um sich nicht zu verraten.
    Sein Weinen schmerzt sie sogar noch mehr als die Unfallgeräusche, die sie regelmäßig heimsuchen.
    Sie lässt sich vorsichtig auf eine der Stufen sinken und achtet darauf, dass David sie nicht sehen kann, sollte er aufschauen. Was allerdings ziemlich unwahrscheinlich ist. Er hat die Arme auf dem Tisch verschränkt, den Kopf darin begraben und die Brille danebengelegt.
    Sie kann sich nicht erinnern, jemals jemanden so weinen gesehen zu haben. Es ist wie eine Bestrafung, ihn dabei zu beobachten, und sie weiß, dass sie diesen ungefilterten Kummer ohne ihre Stütze, ihr Gegengift nicht ertragen kann.
    Sie greift nach der Rasierklinge, die sie in der Tasche ihres Bademantels aufbewahrt, aber bevor die scharfe Klinge in ihr Fleisch dringen kann, erstarrt sie.
    Ihr fällt plötzlich doch etwas ein, das sie für ihren Bruder tun kann. Ihre Eltern kann sie nicht zurückholen, und alles, was sie sonst bisher versucht hat, ist gründlich danebengegangen, aber es gibt etwas, das sie hier und jetzt für ihn tun kann.
    Sie kann sitzen bleiben und über ihn und seinen Schmerz wachen. Sie kann sich die Kraft abringen, es auszuhalten, jeden erstickten Schluchzer gemeinsam mit ihm durchzustehen, ohne Zuflucht in dem zu suchen, was sie bisher davor bewahrt hat, diesen Schmerz selbst zu fühlen.
    Er wird nie davon erfahren, wird nie wissen, wie viel Kraft sie das kostet, aber sie wird das Gefühl haben, endlich etwas für ihn getan zu haben.
    Sie erinnert sich an das letzte Mal, als sie ihn weinen gesehen hat, und daran, wie viel Angst es ihr gemacht hat. Schon da hat sie geahnt, wie stark ihr Bruder sein muss, um solch einer abgrundtiefen Trauer standzuhalten. Aber jetzt ist es nicht mehr nur eine Ahnung, sondern absolute Gewissheit, die sie mit unglaublicher Ehrfurcht erfüllt. Sie weiß besser als jeder andere, wie viel innere Stärke es braucht, sich seinem Kummer so hinzugeben.
    Sie selbst wird dazu nie in der Lage sein. Schon zuzusehen, ohne sich zu ritzen, ist fast mehr, als sie ertragen kann.
    Seine Tränen tun ihr mehr weh als jeder Schmerz, den sie sich selbst zufügen kann, und doch tröstet es sie merkwürdigerweise gleichzeitig, dass ihr Bruder dazu fähig ist, so zu trauern. Dass er nicht zu solchen Hilfsmitteln greifen muss, wie sie sie benutzt.
    Nein, sie ist weit davon entfernt, so stark zu sein. Aber sie wird hier sitzen bleiben und so lange über jede seiner Tränen wachen, bis sie versiegt sind.
    Irgendwann hört David auf zu weinen. Er sitzt am Tisch, das Kinn auf die Hände gestützt, und starrt noch eine Weile die Wand an, bevor er aufsteht und aus der Küche geht.
    Willow steht ebenfalls auf und

Weitere Kostenlose Bücher