Bis unter die Haut
schleicht so leise, wie sie gekommen ist, in ihr Zimmer zurück, kriecht in ihr Bett und starrt an die Decke. Als vor ihrem Fenster langsam der Tag anbricht, ist sie immer noch wach. Und so bleibt sie liegen, hellwach, und starrt an die Decke, bis die Wohnung zum Leben erwacht und Cathy sie zum Frühstück ruft.
Die Erinnerung daran, wie David geweint hat, begleitet Willow den ganzen Tag über. Sie ist so müde, dass sie kaum die Augen offen halten kann. Aber jedes Mal, wenn der Schlaf sie zu übermannen droht, denkt sie daran, wie traurig und verloren er am Küchentisch gesessen hat. Das hilft ihr, den Unterricht zu überstehen. Doch als sie in der Bibliothek ankommt, ist sie so fertig, dass sie im Stehen einschlafen könnte.
»Hey, Carlos.« Die Worte gehen fast in ihrem Gähnen unter, das sie nicht unterdrücken kann. »Bitte entschuldige!« Sie hebt die Hand vor den Mund. »Aber ich hab letzte Nacht kaum geschlafen.«
»Dann ist das heute dein Glückstag«, sagt Carlos und sieht sie verständnisvoll an. »Heute Nachmittag hab ich nämlich die Oberaufsicht hier und deswegen schlage ich vor, dass du es gemütlich angehen lässt und nichts weiter tust, als oben ein paar Regale einzuräumen. Was hältst du davon?«
»Du bist der Chef.« Sie unterdrückt ein erneutes Gähnen und verstaut ihre Tasche unter der Annahmetheke. Sie weiß, dass Carlos es nur gut meint: Regale einzuräumen ist meistens tatsächlich stressfreier, als an der Theke zu stehen und sich um die Besucher und ihre Fragen zu kümmern, aber im Moment würde sie es vorziehen, lieber nicht allein im Magazin zu sein, wo sie noch mehr Gelegenheit zum Grübeln hat.
»Schau mal – damit müsstest du bis zum Ende deiner Schicht mehr als genug zu tun haben.« Carlos deutet auf mehrere über und über mit Büchern beladene Rollwagen, die den Zugang zum Aufzug blockieren.
»Hast du die etwa alle für mich aufgehoben?«, brummt Willow, während sie sich den ersten Rollwagen schnappt und ihn in den Aufzug schiebt.
Aber nach einer Weile stellt sie erleichtert fest, dass ihr Carlos gar keinen größeren Gefallen hätte tun können, als sie diese ganzen Bücher einsortieren zu lassen. Das ist genau die Ablenkung, die sie braucht. Die Zeit vergeht wie im Flug und mittlerweile ist sie Carlos geradezu dankbar, bis sie die letzte Bücherladung sieht, die für den elften Stock vorgesehen ist.
Als sie aus dem Aufzug steigt, muss sie unwillkürlich daran denken, was hier zwischen ihr und Guy schon alles passiert ist – von ihrer ersten Unterhaltung bis zu ihrem Kuss vorgestern –, und sie hat das Gefühl, als seien diese Wände Zeugen der wichtigsten Ereignisse in ihrem Leben, seit ihre Eltern starben.
Willow lässt den Rollwagen stehen und schlendert zu ihrem Eckchen am Fenster hinüber. Sie geht in die Hocke und berührt die Stelle, an der sie nebeneinandergesessen haben. Sie weiß, dass es albern ist, aber es kommt ihr seltsam vor, dass der Beton sich so kalt und rau anfühlt, obwohl sich hier so viele intensive Momente abgespielt haben.
Sie schließt die Augen und gibt sich einen Augenblick lang der Erinnerung an ihre Umarmung hin, bis das Rumpeln des Aufzugs sie erschrocken aufspringen lässt. Es ist ihr schon unangenehm, wenn sich Leute im Magazin aufhalten, wäh rend sie hier arbeitet, aber sie würde vor Scham sterben, wenn sie jemand dabei erwischen würde, wie sie verträumt Zwiesprache mit dem Betonboden hält.
Sie eilt zum Rollwagen zurück, schiebt ihn vor eines der Regale und sortiert gerade ein Buch ein, als auch schon die Fahrstuhltüren aufgehen. Sie wirft einen kurzen Blick über die Schulter.
»Oh!« Es ist Guy, der aus dem Aufzug tritt, und einen kurzen Moment lang glaubt sie fast, dass er bloß eine von ihrer heftigen Sehnsucht hervorgerufene Erscheinung ist.
»Hallo.« Sie dreht sich ganz zu ihm um. »Mit dir hätte ich heute gar nicht gerechnet. Musst du wieder etwas recherchieren?«
»Hi.« Er kommt auf sie zu. »Der Typ unten an der Annahme hat mir gesagt, dass du hier oben bist.«
»Carlos?«
»Ja, genau. Sorry, ich hatte seinen Namen vergessen. Jedenfalls … ich hab dir was mitgebracht.«
»Echt?« Willow legt das Buch, das sie gerade einsortieren wollte, auf den Rollwagen zurück und sieht Guy an. »Das ist ja nett. Was denn?«
»Schmuggelware.« Guy zaubert hinter seinem Rücken eine braune Papiertüte hervor, aus der er einen Becher Eiskaffee zieht.
»Oh mein Gott!« Sie lacht. »Das ist so süß von dir! Ich lechze nach
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