Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte
Chaos-Layout und handgetippten Stories über Konzerte, Platten, Besäufnisse und das Leben als minderjähriger Punkrocker in Deutschland, wo man für eine zerlöcherte Jeans in schöner Regelmäßigkeit was aufs Maul bekam.
Ende 1982 erreichte mich per Post die erste Hosen-Single, addressiert an mein Fanzine »Primitiefes Leben«. Das war für mich damals eine Sensation, denn als Herausgeber einer solchen Minigazette war ich es gewohnt, die Platten, über die ich berichten wollte, zu kaufen. Da mit Punkplatten noch kein Geld zu verdienen war, war bis dahin noch niemand auf die Idee gekommen, obskure Hobbyschreiber damit zu bemustern. Viel wichtiger aber war, daß nach der ersten Euphorie und der anschließenden Stagnation in der Punkszene auf einmal wieder eine Band am Start war, die das ganze unbeirrbar fortsetzte. »Mit wehenden Fahnen werden wir untergehen«, lautete eine ihrer frühesten Songzeilen - das sprach mir voll aus dem Herzen. Ich gründete den ersten offiziellen Fanclub dieser Idioten (drei Mitglieder) - und reiste ihnen jahrelang hinterher. Bei einem Zuschauerschnitt von etwa fünfundfünfzig Leuten pro Auftritt entwickelten sich dadurch schnell familiäre, bis heute bestehende Seilschaften.
Ende der Achtziger, als ich bei einer Plattenfirma in meiner Heimatstadt Frankfurt Promotiontexte für Künstler verfaßte - viele davon zu schrecklich, um sie hier namentlich zu erwähnen -, erreichte mich dann ein Ruf aus Düsseldorf. Die Hosen suchten jemand mit solidem Punk-Background und Kenntnis der Strukturen eines großen Musikkonzerns, der bei ihrem damaligen Vertragspartner Virgin ihre Interessen vertreten konnte. Die folgenden Münchner Jahre wurden sowas wie meine Ausbildung für die eigene Firma »JKP« (Jochens kleine Plattenfirma), auf der die Hosen ihre Musik jetzt veröffentlichen.
Keine Konzernpolitik, keine Geschäftsführer, die man um Budgets anbetteln muß - es hätte so schön werden können. Aber das tägliche Brot jeder Band besteht ja nicht nur aus dem Musikmachen, sondern auch daraus, jeden Tag wieder Dutzende von Entscheidungen zu treffen. Dazu kommt der Nachteil, daß die Hosen demokratisch organisiert sind und ich keine andere Gruppe von Menschen kenne, deren Persönlichkeitsstruktur so grundverschieden ist.Jedes Thema, vom Spruch auf dem Anrufbeantworter bis zur Gestaltung des Plattencovers, wird in unseren sogenannten »Blauen Stunden« lang und breit erörtert, bis es endlich mal zur Abstimmung kommt. Da hat man dann nach stundenlangen Redeschlachten, oft am Rande körperlicher Gewaltanwendung, durch Diplomatie und geschicktes Taktieren endüch Mehrheiten für eine Entscheidung geschaffen - und dann gehen kurz vor der Abstimmung zwei Stimmberechtigte auf’s Klo, und der fast angenommene Antrag ist plötzlich abgelehnt. Oder Entscheidungen fallen, weil jemand schlecht drauf ist oder müde oder auf einmal nach Hause will. In solchen Momenten spiegeln sich auch bei uns die Schwächen des demokratischen Systems.
Manchmal wünsche ich mir einen kleinen Band-Stalin, der in gewissen Notfällen die anderen mit allen notwendigen Mitteln wieder auf Parteilinie bringt. Der Gag am Erfolg der Hosen ist aber, daß die Herren es mitsamt diesem Chaos soweit gebracht haben. Ich könnte mich bepissen vor Lachen, wenn mir wieder irgendwelche Neunmalklugen erzählen, wie toll diejungs ihre Karriere und diese »ausgeklügelten Marketingstrategien« geplant hätten. Totaler Quatsch! Die Toten Hosen sind bloß die mal mehr, mal weniger kontrollierte Katastrophe im klassischen Stil: Scheiß auf alle Regeln, mach dein eigenes Ding.«
So manche verlaberte Nacht habe ich mich gefragt, ob das den Aufstand überhaupt wert war. Es geht ja auch anders: Keine Kontrolle, keine Verantwortung - nur hundertfünfzig Launen, nach denen ich abnicke oder verwerfe, oder alles stumpf ertragen, was die Plattenfirma für mich beschließt. Vielleicht wäre es das schönere Leben. Aber wir haben es uns anders ausgesucht, und inzwischen sind wir unabhängig auf eine Art, wie keiner sich das damals vorstellen konnte.
Wir legen fest, wieviel ein Ticket oder ein T-Shirt maximal kosten darf, wir bestimmen, wo wir auftreten und wo nicht. Wir entscheiden, welches Cover das beste ist und welcher
Sound gefahren wird. Und wir suchen uns die Leute aus, mit denen wir Zusammenarbeiten.
Ich will nicht das Wort »Familie« für unseren Verbund strapazieren, das ist zu ausgelutscht. »Familie« sagen auch Panasonic und Hertie und
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