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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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sie zu einem ernsthaften Problem wurden. Das war das Schöne daran: Selten, fast nie war er gezwungen, ein Verhör samt all seinen unangenehmen Begleiterscheinungen durchzuführen. Deswegen war er so beliebt.
    Manchmal, wenn er dienstfrei hatte, fuhr er ein paar Kilometer in die Steppe hinaus und betrachtete von dort das sonderbare Gebilde, das aus der Ebene emporwuchs. Am markantesten waren die Starttürme. Wie riesige, stählerne Blütenkelche ragten sie in das blaue Blau.
    Nie würde er den Tag vergessen, an dem er die erste Rakete abheben sah. Zusammen mit seinen Soldaten war er neben ihr hergegangen, als sie sich auf den Schienen im Schritttempo zur Abschussrampe bewegte. Mickrig und schwach war er sich vorgekommen angesichts des Kolosses neben ihm. An der Rampe richtete sich das Ungetüm langsam auf, wurde von den Blütenblättern des Startturms sorgsam umschlossen. Eine gewaltige Grube unter der Betonrampe, die aussah wie der Schlund zur Hölle selbst, sollte das Feuer der Triebwerke aufnehmen.
    Und dann der Moment der Zündung: Ein tiefes Grollen, begleitet vom Zischen eines Drachen, rollt über die Ebene. Der Kelch hat sich geöffnet. Ein, zwei Lidschläge lang verharrt die Rakete feuerspeiend über dem Abgrund, der sich mit Rauch und Flammen füllt. Dann steigt sie bedächtig, fast behutsam empor, wird schneller und schneller, und während die Luft noch vibriert von ihrem Tosen, hat sie sich schon dem Griff der Erde entwunden.
    «Soso, ‹dem Griff der Erde entwunden› – Sie hätten Poet werden sollen, Genosse Oberst», sagte der Arzt. «Aber was hat das alles mit dem Rauchen zu tun?»
    Konew seufzte. Dann sah er seine Enkeltochter an. «Soll ich das wirklich erzählen?»
    Sie nickte.
    Er schloss die Augen.
    «Ich habe den Start des Sputnik gesehen. Habe die Hunde gestreichelt, bevor sie auf Nimmerwiedersehen ins All geflogen sind. Und später habe ich Gagarin auf seinem Weg zu seinem winzig kleinen Raumschiff Wostok 1 begleitet. Das waren, wie man so sagt, Sternstunden der Menschheit. Wobei die Hunde nie gefragt wurden, ob sie überhaupt mitfliegen wollten.
    Die meisten Raketen, die wir hochgeschossen haben, hatten jedoch in Wirklichkeit den Zweck, den Tod zu bringen. Auch an jenem Tag. Es war eine Rakete, die ihre tödliche Fracht nach Amerika tragen konnte. Einfach so – vom einen zum anderen Ende der Welt. Lautlos, schnell, unaufhaltbar sollte sie sein. Der Marschall der Strategischen Raketenstreitkräfte war persönlich für den Test angereist. Es gab Verzögerungen, Schwierigkeiten mit dem Prototyp. Der Marschall machte den Ingenieuren und Technikern, allen voran dem Chefdesigner Yangel, der die Rakete entworfen hatte, mächtig Druck. Der Start war bereits mehrfach verschoben, aber auf Drängen des Marschalls immer wieder neu angesetzt worden.
    Ich hatte mit alldem nicht viel zu tun. Als der Countdown begann, musste ich wie immer darauf achten, dass alle sich in ihren Beobachtungsbunkern oder in sicherer Entfernung aufhielten, dass sich keine Fahrzeuge, keine überflüssigen Gerätschaften mehr in der Nähe der Rampe befanden und dass die allgemeinen Sicherheitsvorschriften, zum Beispiel das absolute Rauchverbot in der Nähe der Rampe, hundertprozentig befolgt wurden.
    Aber durch die Drängelei des Marschalls waren alle nervös und unachtsam geworden. Zu viele Menschen, die dort gar nichts zu suchen hatten, hielten sich an der Rampe auf. Als ich auf die Verletzung der Vorschriften hinwies, stauchte mich der Marschall mit den Worten zusammen, dass man den Krieg gegen Hitler mit Bürokraten wie mir wohl verloren hätte. Dann musste der Countdown wegen eines defekten Ventils abgebrochen werden. Jetzt schäumte der Marschall erst richtig. Er ließ sich einen Stuhl aus dem Beobachtungsbunker bringen und setzte sich mit der Ankündigung, nicht aufzustehen, ehe die Rakete startklar sei, daneben. Das muss man sich mal vorstellen! Nun rannten alle herum wie aufgescheuchte Hühner, keiner wollte beim Kommandeur der Strategischen Raketenstreitkräfte in Ungnade fallen. Nur Chefingenieur Yangel, der neben mir auf der Rampe stand, blieb ruhig und fischte sich gedankenverloren eine Zigarette aus seiner Packung. Ich beschloss, den Rest meines Stolzes zusammenzukratzen, und wies den Genossen Chefingenieur darauf hin, dass das Rauchen im Startbereich absolut verboten sei. Er möge bitte in eine der Raucherzonen gehen oder aber die Zigarette wieder wegstecken. Er sah mich überrascht an, als hätte er nicht richtig

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