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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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gehört. Als wollte und könnte er diese Zurechtweisung durch mich, einen Offizier der Wachbrigade, schon deshalb nicht hinnehmen, weil ich nur ein Major war, ein Berufssoldat, den man im Gegensatz zu einem Chefingenieur für Interkontinentalraketen mehr oder weniger beliebig ersetzen konnte. Ich war mir beinahe sicher, dass er sich die Zigarette allein schon aus diesem Grund in den Mund stecken würde, um mir diesen Unterschied ein für alle Mal klarzumachen. Fast war mir, als ob mich der Geruch abbrennenden Tabaks, als ob mich Yangels rauchgeschwängerter Atem schon in der Nase kitzelte. Der Chefingenieur aber drehte den Glimmstängel zwischen dem Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand hin und her, betrachtete ihn von allen Seiten, bevor er aufblickte und mir in die Augen sah.
    ‹Wissen Sie, was passiert, wenn wir diese Dinger eines Tages zünden müssen?›, fragte er.
    Ich begriff nicht, was er meinte.
    ‹Das ist dann das Ende der Welt. Fünfundvierzig Minuten. Vielleicht sechzig. Mehr Zeit wird nicht bleiben. Was werden wir Menschen machen in dieser letzten Stunde? Rauchen? Trinken? Uns lieben? Haben Sie schon, Genosse Major, eine Liste bereit, wissen Sie, wen Sie anrufen werden, haben Sie eine Frau, haben Sie Kinder, haben Sie entschieden, wem Ihr letztes Wort gilt?› Er lächelte, dann zuckte er mit den Achseln. ‹Was soll’s›, sagte er, ‹das kann hier noch Stunden dauern.› Dann hielt er mir die Packung hin und fragte, ob ich ihn begleiten wolle. ‹Kommen Sie schon, Genosse Major, hier braucht Sie niemand, gehen wir uns ein wenig die Beine vertreten und eine rauchen.›
    Und da mir der Anschiss des Marschalls noch tüchtig in den Knochen saß, war die Aussicht auf eine Zigarette zu verlockend, um nein zu sagen.
    Wir haben es nicht gesehen. Wir standen mit dem Rücken zur Rampe, über einen halben Kilometer entfernt, in einem Betongraben. Aber wir, die wir schon so viele Raketen hatten starten hören, erkannten sofort, dass das kein Start war, sondern eine Katastrophe. Am Anfang war da ein Zischen, dann ein Knall. Instinktiv warfen wir uns hin. So entkamen wir der Feuerwalze, die mit einem tiefen Pfeifen über den Graben hinwegfuhr. Jemand hatte den falschen Knopf gedrückt. Jemand hatte in der Aufregung den falschen Knopf gedrückt und aus Versehen die zweite Stufe gezündet, während die Rakete noch am Boden stand. Während noch niemand im Bunker war. Während der Marschall auf einem roten Klappstuhl verärgert neben der Rakete saß und mit seinem rechten Stiefel ungeduldig auf den Boden tippte. Das ist das Problem mit diesen Raketen: dass irgendwann irgendjemand den falschen Knopf drückt.
    Vom Marschall wurde nur sein Orden ‹Held der Sowjetunion› gefunden. Der Ingenieur und ich wurden von einer Kommission verhört. Noch genau kann ich mich daran erinnern, wie mich der Vorsitzende, Leonid Breschnew, fragte, wie ich die Katastrophe überleben konnte. Da sagte ich ihm wahrheitsgemäß, dass ich das dem Genossen Chefingenieur verdankte.
    So kam es, dass Yangel nicht entlassen wurde; stattdessen haben sie später einen kleinen Krater auf dem Mond nach ihm benannt.»
     
     
    «Der ist schwer zu finden», sagte Laska. Er saß auf einem Hocker hinter dem Okular des Teleskops und kurbelte an der Montierung herum. «Kann sein, dass dieses Instrument es nicht schafft», fügte er hinzu. «Ich habe noch ein größeres. Aber – nicht hier.»
    In dem Augenblick kam er Anna wie ein kleiner Junge vor, der sich in der Beschäftigung mit seinem Spielzeug verliert.
    Sie war neben ihn auf die Terrasse vor seinem Zimmer getreten. Das Haus war, trotz aller Ähnlichkeiten, nicht nur das letzte in der Reihe, es war auch etwas höher. So konnte sie über die Dächer der Nachbarbauten hinwegschauen, die still und dunkel am Waldrand standen. Erst am anderen Ende der Reihe sah sie ein kleines Fenster, dahinter Licht. Weit entfernt glaubte sie Straßenlärm zu hören. Ob die Deutschen alle schon in ihren Betten lagen und schliefen? Ein Gefühl sagte ihr, dass die Deutschen vielleicht in ihren Betten lagen und das Licht gelöscht hatten, aber nicht schliefen.
    Über ihnen leuchteten der Mond und die Sterne, die, als sie ihren Kopf in den Nacken legte und sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, von Mal zu Mal zahlreicher wurden. An der Universität hatte sie die Beobachtungsabende in dem kleinen Lehr-Observatorium beinahe immer geschwänzt. Nur einmal war sie da gewesen. Wie sich herausstellte, als Einzige. Da

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