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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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Denn lange bevor man dem Startplatz den Namen Baikonur gab, hatte er nur eine Nummer. Und da nur wenige davon wissen durften, da man selbst ihm, dem verdienten Bewacher der Gespenster von Spandau, zunächst falsche Marschbefehle zugestellt hatte, sodass er sich auf dem Papier an einem ganz anderen Ort in der Union befand, hatte der Major bald das Gefühl, zu verschwinden oder aber, gemäß den Gesetzen der Quantenmechanik, an zwei Orten gleichzeitig zu sein.
    Es gab die Stadt und den Fluss. Es gab Häuser und Straßen und Hallen und Licht und Lärm in der Nacht. Vor allem das gab es: Tag und Nacht brannte irgendwo Licht, schien immer irgendwo jemand wach zu sein, der die begonnene Arbeit fortführte, einen Fehler ausmerzte oder ihn durch den nächsten ersetzte. Und so blieb ihm in diesen frühen Tagen und Nächten das eigentliche Ziel der Reise – die Sterne – verborgen.
    Er arbeitete nicht. Er kontrollierte. In Spandau hatte man sein besonderes Talent erkannt, das darin bestand, den Menschen ein schlechtes Gewissen sofort anzusehen. So waren die Versuche der Gespenster gescheitert, Dinge, meist lose Blätter oder Schulhefte, auf denen sie sentimentale Erinnerungen an das Leben, bevor sie Gespenster wurden, abgefasst hatten, nach draußen, also in die Gegenwart zu schmuggeln. Jedem vermeintlichen Kurier hatte Konew an der Nasenspitze oder anderen physiognomischen Eigenheiten angesehen, dass er kurz davor war, etwas Verbotenes zu tun, das ihn vielleicht nicht in Teufels Küche, aber doch in den Gulag bringen konnte, was, wie Konew dem einen oder anderen Leugner zu erklären versuchte, letztlich schlimmer sei. Meistens allerdings hatte nur ein Blick genügt, den Kameraden oder Bediensteten vor Unüberlegtem zu bewahren. Aber er konnte nicht überall sein. Vor allem konnte er nicht immer da sein. Und so probierten die Gespenster das, was ihnen bei Hauptmann Konew nicht gelang, noch einmal bei den anderen – den Franzosen, Briten und Amerikanern.
    Immer mehr hatte sein Dienst in Spandau die Züge einer westlich-dekadenten Sisyphusarbeit angenommen. Und dann war da auch noch die verbotene Liebe. Die verbotene Liebe zu einer Deutschen saß dem Leutnant nicht nur im Nacken, sie steckte in Glied und Gliedern, und als er zum Hauptmann befördert wurde, tat sie es mehr denn je. In dem Bewusstsein, dass es ihnen nicht besser, sondern schlechter ergehen werde als Romeo und Julia, harrte er des Tages, an dem seine verbotene Liebe, hoppladihopp, auffliegen würde – was zweifellos Militärgericht und Lager bedeutet hätte. Darum war er dem neuen, unsympathischen Kommandanten fast dankbar, als der ihm eines Tages die Last des Geheimnisses abnahm und die Versetzung antrug. Selbst hätte er nie danach zu fragen gewagt. Einen so prestigeträchtigen Posten wie den eines Gespensterwächters in Spandau gab man nicht ohne besonderen Grund auf. Es hätte Verdacht erregt. Der Genosse Generalleutnant hingegen tat so, als könnte es sich Konew überlegen, dabei hatte er schon seit längerem den Plan gefasst, Konews Posten einem seiner Neffen zuzuschieben, und mit dem Generalstab alles abgesprochen.
    «Bald bist du in Moskau, ach», sagte der Generalleutnant, «ich wünschte, das wäre ich auch.» Was er freilich, aus verschiedenen Gründen, nicht wünschte.
    Konew hatte nicht gewusst, dass die Gespenster in ihm so etwas wie einen Freund gesehen hatten. Erst als er sich im Gefängnisgarten von ihnen verabschiedete, merkte er, dass sie sein Weggehen bedauerten. Alle, bis auf den verrückten Piloten natürlich, der abseits der anderen vor seinem unbestellten Beet hockte.
    «Was heult ihr hier so rum?», fragte er laut, «der nächste Iwan wird auch nicht anders sein.»
    «Ach, seien Sie doch still!», zischte der Bankier.
    «Heulsusen!», rief der Pilot.
    «Ich hör da ja schon gar nicht mehr hin», entschuldigte sich der Architekt.
    «Heil dir im Siegerkranz!», schrie der Pilot und begann, auf den Radieschen des Pfadfinders herumzutrampeln.
    Trotz der gelegentlichen Traumauftritte der Spandauer Gespenster war Konew froh, in der Steppe zu sein. Beim Stab in Moskau, auf den endlosen Fluren, wo die Luft von Bürokratie und Intrigen zu flimmern schien, hatte er sich alles andere als wohlgefühlt.
    In Baikonur machte er wieder das, was er schon in Berlin gemacht hatte: Er plante die Zugänge zum Gelände, er kontrollierte den Dienst der Wachen und versuchte, mögliche Schwachstellen im System – bei Mensch und Material – zu finden, bevor

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