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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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hatte sie dann mit dem Tutor des Professors Wodka getrunken, und er hatte versucht, sie zu küssen.
    «Da – das müsste der Krater sein. Etwas unterhalb dieser Rille, die wie eine Narbe aussieht. In der Mitte, schnell!»
    Widerstrebend setzte sie sich hinter das Teleskop. Sie hatte erwartet, dass es wie auf den Fotografien aussehen würde. An jenem lange vergangenen Abend im Observatorium hatte ihr der Tutor das Fernrohr auf den Jupiter eingestellt, und sie hatte die vier Galileischen Monde und ein paar Wolkenbänder erkennen können. Ihr Großvater war es gewesen, der ihr früh die Positionen der Gestirne und die Namen der Sternbilder beigebracht und ihr mit seinem alten Armee-Spektiv die Plejaden gezeigt hatte. Aber den Mond sah sie so zum ersten Mal.
    Den wirklichen Mond. Keine Fotografie. Ob sie den richtigen Krater erkannte, spielte keine Rolle. Entlang der Tag-und-Nacht-Grenze, dem Terminator, warfen die Kraterränder und Gebirgsgrate lange Schatten auf die trockenen, weiß-golden schimmernden Ebenen, die dort, wo Lunochod II lautlos durch den Staub gerollt war, Namen trugen wie «Meer der Heiterkeit» und «See der Träume».

[zur Inhaltsübersicht]
    3
    Es heißt, dass das, was man in seiner ersten Nacht an einem fremden Ort träumt, in Erfüllung geht.
    Anna träumte in ihrer ersten Nacht in Berlin davon, ein Roboter zu sein, der wie Lunochod II lautlos über die Mondoberfläche fährt, ab und zu mit seinem Greifarm einen Stein aufhebt, ihn nachdenklich umdreht und dann wieder an seinen jahrtausendealten Platz zurücklegt. Von den beiden Teppich-Astronauten träumte sie nicht. Sie war allein auf dem Mond. Irgendwann versank die Sonne hinter den Rändern Yangels, auf dessen Grund sie vor einer geborstenen Rakete stand.
    Am Morgen war Laska früh auf, und als sie, noch etwas verschlafen, die Treppe hinunterkam, war er bereits in der Küche, kochte Kaffee und briet Eier. Er tat dies mit großer Akribie, wie ein Mann, der jahrelang allein gelebt hatte, sodass ihm jeder alltägliche Handgriff zu einer Routine geworden war, die nicht unterlaufen werden durfte. Sie stand im Türrahmen der Küche und wünschte ihm einen guten Morgen, und er drehte sich kurz um und sah sie erschrocken an, als wäre er überrascht, dass außer ihm jemand im Haus war. Schnell wandte er sich wieder dem Herd zu.
    «Morgen! Gut geschlafen? Setz dich schon mal. Ist gleich fertig.»
    Im Wohnzimmer hatte er bereits den Tisch gedeckt, und auch wenn dieser Raum immer noch den gleichen Politbürocharme ausstrahlte wie am Vorabend und eher noch verlassener wirkte, musste sie lächeln. Aus einem Vitrinenschrank hatte Laska alte, mit Blumen bemalte Teller und Tassen geholt, Festtagsgeschirr, das lange nicht mehr benutzt worden war, vielleicht hatte er kein anderes gefunden. Er brachte die Eier und den Kaffee, und sie setzten sich einander gegenüber und frühstückten. Anna wusste nicht, wie sie die kleinen, kobaltblauen, goldgefassten Tassen halten sollte. Die Henkel waren so eng gewunden, dass ihre Fingerspitzen kaum zueinanderfanden.
    «Ich muss gleich zum Arzt, aber danach können wir vielleicht zusammen Mittag essen und uns etwas anschauen.»
    Sie nickte. «Gut.»
    Später, als er schon in der Tür stand, hielt er kurz inne und drehte sich noch einmal um. «Wenn du rauswillst», sagte er, «spazieren gehen oder so – der Schlüssel hängt neben der Tür.» Er sah plötzlich traurig aus. «Falls du zurückkommst und ich nicht da bin.»
    Nachdem er gegangen war, duschte sie, dann durchsuchte sie die Schränke in seinem Schlafzimmer, fand aber weder dort noch im Wohnzimmer Geld oder sonst etwas, das sich schnell zu Geld hätte machen lassen.
    Was sie stattdessen fand, waren Tabellen und Zahlenkolonnen, handgeschriebene und ausgedruckte, die in einer Schublade des Schreibtischs lagen. Sie wusste nicht, was sie bedeuten sollten. In einer weiteren Schublade fiel ihr ein kleiner blauer Karton in die Hände, den Laska ganz nach hinten, unter unbenutzte Schnellhefter, geschoben hatte, sodass sie schon innerlich jubelte, weil sie annahm, etwas Wertvolles sei darin versteckt. Hastig zog sie den Karton hervor, aber als sie ihn öffnete, war sie enttäuscht. Er enthielt lediglich ein paar Fotos. Die Hälfte von ihnen zeigten Sterne, immer wieder dieselben Sterne, von denen ein bestimmter mit einem weißen, wasserfesten Stift eingekreist und mit einem Pfeil versehen war. Von Foto zu Foto sah es so aus, als würde sich dieses Sternlein minimal bewegen.

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