Bis zum Horizont
mir?«
»Natürlich nicht. Ich hab’s mich nur gefragt.«
»Selbst wenn ich wieder richtig laufen kann, kann ich Spokane nicht verlassen, bevor die Straßen durch Montana und Wyoming frei sind. Das könnte bis April dauern. Aber ich könnte immer noch irgendwo anders unterkommen.«
»Nein, ich würde mich freuen, wenn du bleibst«, sagte sie und aß dann schweigend weiter. Nach einer Weile fragte sie plötzlich: »Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?«
Die Frage gab unserem Gespräch eine ganz neue Richtung. »Ja.«
»Warum?«, fragte sie. »Es gibt keinen Beweis dafür.«
»Du glaubst nicht an ein Leben nach dem Tod?«
»Ich glaube, der Tod ist einfach nur der Tod. Das große Finale. Es gibt kein Leben nach dem Tod, keine Erinnerung. Nichts.«
»Das ist ein deprimierender Gedanke«, sagte ich.
»Für manche wäre es himmlisch«, sagte sie.
»Du meinst, es wäre himmlisch, wenn wir unsere Liebsten niemals wiedersehen würden?«
»Es klingt furchtbar, aber das ist es nicht. Wir würden ja nicht wissen, was wir verloren haben. Einem blind geborenen Mensch fehlt das Augenlicht nicht.«
Ich sah sie an und fragte mich, warum wir dieses Gespräch eigentlich führten.
Als ich keine Antwort gab, sagte sie: »Süßes Vergessen. Darauf hoffe ich zumindest.«
Ich nahm noch ein paar Bissen und sagte dann: »In Davenport bin ich einer Frau begegnet, die behauptet, eine Nahtoderfahrung gemacht zu haben.«
»Diese Leute sind doch verrückt.«
»So kam sie mir nicht vor.«
»Du glaubst also an ein Leben nach dem Tod, wie es die Bibel verspricht, mit Perlentoren und einer Hölle mit einem See aus Feuer?«
»Perlentore und Feuerseen, nein. Aber ich glaube, dass unser Geist und unser Intellekt ebenso weiterleben wie die Beziehungen, die wir zu anderen Menschen gehabt haben.« Ich war selbst leicht verblüfft von der Vehemenz meiner Überzeugung.
Es schien ihr zu missfallen, dass ich ihren Glauben nicht teilte. Plötzlich klang sie streitlustig. »Was für Beweise könntest du oder irgendjemand sonst denn dafür haben, dass jenseits dieses Lebens noch irgendetwas existiert?«
Ich legte meine Gabel hin. »Ich werde mich nicht mit dir streiten. Ehrlich gesagt, war ich mir die meiste Zeit meines Lebens nicht sicher, was ich glauben sollte, bis …« Ich brach ab, denn ich war nicht sicher, wie viel ich preisgeben wollte.
Sie sah mich gebannt an. »Bis was?«
»Am Tag nach McKales Beerdigung habe ich mit dem Gedanken gespielt, mir das Leben zu nehmen. Kurz bevor ich eine Handvoll Pillen schluckte, hörte ich eine Stimme.«
»Eine Stimme?«
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich dachte wirklich, es hätte jemand zu mir gesprochen, und sah mich im Zimmer um. Die Stimme schien aus meinem Inneren und von außen zugleich zu kommen. Ich weiß nur, dass mir das, was sie sagte, nicht wie meine eigenen Gedanken vorkam.
Und dann, nach dem Überfall, kurz bevor die Sanitäter mich wiederbelebten, machte ich noch eine andere Erfahrung. Es war wie eine Art Traum, nur dass ich nicht glaube, dass es einer war. Es war viel klarer. Ich habe McKale gesehen.«
»Deine Frau?«
Ich nickte. »Ich habe mit ihr gesprochen. Und sie hat mir ein paar Dinge gesagt.«
»Was denn für Dinge?«
»Sie hat gesagt, dass es einen Grund gibt, aus dem wir hier auf dieser Erde sind, und dass es Leute gibt, denen ich noch begegnen soll, Leute, deren Lebenswege meinen kreuzen sollen.« Ich sah ihr in die Augen. »Sie hat gesagt, dass ich dir begegnen werde.«
»Mir?«
»Sie hat gesagt, dass ich ›Engel‹ treffen werde. Und als ich im Krankenhaus aufwachte, warst du da.«
Engel konzentrierte sich wieder auf ihr Essen, als bräuchte sie Zeit, um meine Worte zu verarbeiten. Schließlich sagte sie: »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«
»Ich auch nicht.«
Wir aßen schweigend zu Ende. Ich stand auf, um das Geschirr abzuspülen, aber sie hielt mich davon ab. »Bitte«, sagte sie. »Lass mich das machen.«
Ich ging in mein Zimmer, um zu lesen. Als ich herauskam, um gute Nacht zu sagen, brannte in der Küche und der Diele kein Licht mehr. Sie war bereits zu Bett gegangen.
Zehntes Kapitel
Die Erfahrung hat mich Folgendes gelehrt: Je stärker jemand leugnet, desto weniger sollte man ihm glauben.
Alan Christoffersens Tagebuch
Während ich im Bett lag, dachte ich über unser Gespräch nach. Was ich so seltsam fand, war nicht so sehr Engels Meinung, sondern vielmehr die Wut und die Missbilligung, die meine ausgelöst hatte. Nach
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