Bis zum Horizont
emotionale Atempause.
Jeden Tag ging ich ein kleines Stück weiter. Und jeden Tag studierte ich nach meiner Rückkehr eingehend meinen Straßenatlas, strich mit einem gelben Marker Straßen und Routen an und verglich sie, um die bestmögliche Strecke zu finden.
Ich entschied, dass ich, sobald mein Körper und das Wetter es zuließen, am Interstate 90 entlang durch Cœur d’Alene, Idaho, nach Osten laufen würde und dann weiter nach Süden zum Yellowstone National Park, den ich auf dem Weg nach Rapid City, South Dakota, durch das Osttor verlassen würde. Meine Route war vermutlich weder der kürzeste noch der leichteste Weg. Aber ich war als Kind in Yellowstone gewesen und wollte den Park einfach wiedersehen.
Aus demselben Grund, aus dem ich den ersten Abschnitt meiner Reise nicht weiter als bis Spokane geplant hatte, plante ich meine Route nicht weiter als bis South Dakota: Mein Vater hatte mir das so beigebracht. Jedes Mal, wenn ich frustriert vor einer schwierigen Aufgabe stand, sagte mein Vater: »Wie isst man einen Elefanten?« Ich sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren, und dann sagte er: »Einen Bissen nach dem anderen.« Rapid City, das etwas über 700 Meilen von Spokane entfernt lag, war mein nächster Bissen.
Ich überredete Engel, mich das Kochen übernehmen zu lassen. Verglichen mit Engels waren meine Kochkünste bescheiden, aber ich konnte mich in einer Küche zurechtfinden. In meinem früheren Leben war ich ein besserer Koch gewesen als McKale, die gern behauptete, das Einzige, was sie in einer Küche machen könne, seien Tischreservierungen.
Unser Filmkarussell drehte sich unterdessen munter weiter, und unsere Unterhaltung hätte nicht bunter sein können. Die Liste führte uns von Western über Klassiker zu Science-Fiction. Innerhalb einer Woche sahen wir Goldrausch, Sturmhöhe, Ben Hur, Forrest Gump und French Connection .
Ich entwickelte allmählich Bedenken gegenüber dem Ranking des Amerikanischen Filminstituts. Schon mit Forrest Gump tat ich mich schwer, aber – bei allem gebotenen Respekt vor Dustin Hoffman – Tootsie?
Ich erzählte Engel nie, dass ich sie in jener Nacht weinen gehört hatte. Wenn sie darüber reden wollte, was sie so bedrückte, dann würde sie es schon tun. Aber es brachte mich zum Nachdenken über sie und ihre Vergangenheit, über die ich gar nichts wusste, denn sie gab nach wie vor nichts von sich preis.
Abgesehen von ihren gelegentlichen Anfällen von schlechter Laune war sie durchweg freundlich zu mir und sprach aufmunternd über meine Fortschritte. Aber hinter ihrer gastfreundlichen Fassade verbarg sich ein Abgrund aus tiefer Traurigkeit und Einsamkeit – Emotionen, die mir nicht unbekannt waren.
Was mich beunruhigte, war, dass ich spürte, wie sich die Kluft zwischen uns vertiefte, als würde Engel jeden Tag einen Schritt mehr vor mir und der restlichen Welt zurückweichen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich diese Kluft überwinden oder ob ich es überhaupt versuchen sollte, aber ich konnte nicht anders, als mir Sorgen um sie zu machen.
Zehn Tage nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus fuhr Engel mich wieder zur Ambulanz des Sacred Heart Medical Centers, weil mir die Fäden gezogen werden sollten. Als wir dort waren, schauten wir auch auf der Intensivstation vorbei, um Norma zu besuchen, aber sie hatte leider ihren freien Tag.
Während meine Wunden verheilten, kehrte auch mein Muskeltonus allmählich wieder, und am Ende meiner zweiten Woche bei Engel konnte ich von der Couch aufstehen oder die Treppe hochsteigen, ohne es in meinem Tagebuch für erwähnenswert zu halten. Ich konnte noch nicht beim Ironman mitmachen, aber fürs Erste war es genug.
Am elften November erreichte ich mein erstes größeres Ziel. Ich ging vor bis zur Ecke unseres Blocks, dann bog ich nach Süden ab und lief weiter bis zum Ende der Straße. Auch wenn Engel und ich auf dem Weg zu ihrem Haus an dieser Ecke vorbeigefahren waren, war es doch etwas anderes, den Ort auf meinen eigenen zwei Beinen zu erreichen.
Eine Montessorischule nahm die andere Hälfte des Blocks ein, und ein paar Dutzend Jungen spielten auf dem Spielfeld hinter der Schule Football.
Ich blieb stehen, um ihnen zuzusehen, und hakte meine Finger in den kalten Maschendrahtzaun. Die Jungen trugen lange, marineblaue Trikots und große weiße Helme, mit denen sie wie Wackelkopffiguren aussahen.
Es war ein erstaunlich befreiendes Gefühl, draußen und so weit weg von Zuhause zu sein, und ich ließ mir auf dem
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