Bis zum Horizont
eben.«
»Wie sah sie denn aus?«
»Sie war vermutlich nur ein bisschen älter als wir. Sie war hübsch angezogen und hatte lange rote Haare.«
»Was hast du zu ihr gesagt?«
»Ich habe ihr gesagt, dass hier keine Nicole wohnt.«
Engel sah mich einen Moment an, dann wandte sie sich ebenso unvermittelt, wie sie mit dem Essen aufgehört hatte, wieder ihrem Teller zu. »Nein, hier wohnt niemand, der so heißt. Möchtest du noch etwas Füllung?«
Ich sah sie fragend an, dann reichte ich ihr meinen Teller. »Gern.«
Nach dem Abendessen überredete ich Engel, ihr beim Abwasch helfen zu dürfen. Danach machte sie Popcorn, und wir gingen ins Wohnzimmer, um uns den nächsten Film anzusehen. Lichter der Großstadt war noch immer nicht eingetroffen, daher sprangen wir vor zu Nummer 75, Der mit dem Wolf tanzt , mit Kevin Costner als Regisseur und Hauptdarsteller.
Ich hatte den Film schon einmal gesehen – zweimal sogar, glaube ich –, aber das war über zehn Jahre her.
McKale und ich hatten ihn zusammen gesehen. Ich weiß noch, dass sie am Ende geweint hatte, was kein Wunder war, da sie selbst bei Werbespots für Hallmark-Grußkarten weinte.
Der Film hatte seinerzeit sieben Oscars gewonnen, unter anderem den für den besten Film. Ein Großteil des Films wurde in South Dakota und Wyoming gedreht, zwei der Bundesstaaten, die ich durchqueren würde, sobald ich wieder gehen konnte.
Der mit dem Wolf tanzt ist einer der eher langen Filme auf der Liste der hundert besten Filme. Er dauert fast vier Stunden, und Engel war lange vor dem Ende eingeschlafen. Als der Abspann über den Bildschirm lief, beugte ich mich vor und schüttelte sie sanft. »Hey, der Film ist zu Ende.«
Ihre Augenlider flatterten, dann sah sie zu mir hoch, als müsste sie erst überlegen, wer ich war. Dann blinzelte sie ein paarmal, und ihre Augen weiteten sich. »Oh. Ist der Film aus?«
»Ja.«
Sie rieb sich die Augen. »Wie ist er ausgegangen?«
»Die Indianer haben verloren.«
»Das dachte ich mir schon«, sagte sie, während sie aufstand.
Ich holte einmal tief Luft und stemmte mich dann ohne Hilfe von der Couch hoch. Ich brauchte allerdings noch immer einen Augenblick, um danach wieder zu Atem zu kommen.
»Ich hätte dir helfen können«, sagte Engel schläfrig. Sie konnte sich selbst kaum noch auf den Beinen halten.
»Ich weiß«, sagte ich auf dem Weg zu meinem Zimmer. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Kevin.«
Ich sah sie an. »Kevin?«
»Alan«, korrigierte sie sich hastig.
Ich grinste. »Tut mir leid, ich bin nicht Costner.«
»Costner?«, fragte sie, und dann nickte sie. »Ach ja, richtig. Gute Nacht.«
Mitten in der Nacht wachte ich auf. In meinem Zimmer war es dunkel, und ich rollte mich herum, um einen Blick auf den Radiowecker auf dem Nachttisch neben meinem Bett zu werfen. 3.07 Uhr. Ich stöhnte und fragte mich, warum ich so früh aufgewacht war. Dann hörte ich es, ein leises, gedämpftes Wimmern. Mein erster Gedanke war, dass draußen irgendwo ein Kater jaulte, bis ich begriff, dass es aus der Wohnung kam.
Ein paar Minuten lag ich still da und lauschte. Es klang wie ein Weinen. Ich stemmte mich hoch, stieg aus dem Bett und öffnete leise meine Zimmertür. Das Geräusch kam aus Engels Zimmer. Ich ging hinüber und legte ein Ohr an ihre Tür.
Engel schluchzte, auch wenn ihr Schluchzen so gedämpft klang, als würde sie sich ein Kissen vors Gesicht halten. Es ging mir ans Herz zu hören, dass sie solchen Kummer hatte. Einen Augenblick lang stand ich einfach nur da. Ich wollte sie trösten, war mir aber nicht sicher, was ich tun sollte. Vielleicht wollte sie meine Hilfe gar nicht.
Nach ein paar Minuten wurde ihr Schluchzen schwächer, bevor es schließlich völlig verstummte. Ich humpelte zurück zu meinem Bett, den Kopf voller Fragen. Je länger ich bei ihr war, desto klarer wurde mir, wie wenig ich sie kannte. Die Wahrheit war, ich kannte sie überhaupt nicht.
Elftes Kapitel
Wir sind alle Monde. Manchmal sind nur unsere dunklen Seiten zu sehen und nicht unser Licht.
Alan Christoffersens Tagebuch
Die nächste Woche verlief ruhig. Ich gewöhnte mich allmählich an meine neue Routine. Irgendwie half mir mein verändertes Umfeld auch, nicht mehr an McKale zu denken, als könnte ich mir vormachen, ich wäre nur auf Geschäftsreise, während sie zu Hause auf mich wartete. Vielleicht lag es auch daran, dass es in meiner neuen Umgebung nichts Vertrautes gab, das mich an sie erinnerte. Wie auch immer, ich war froh über die
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