Bis zur letzten Luge
Er hatte es abgelehnt, auf einem Wagen in der Proteus-Parade mitzufahren, und er hatte vorgehabt, eine Entschuldigung zu finden, um nicht am Abendbüfett im Opernhaus oder am anschließenden Ball teilnehmen zu müssen. Aber in letzter Sekunde hatte er seine Meinung geändert. Er wollte sich Aurores Tanzpartner genauer ansehen.
Eine verliebte Frau umgab eine ganz besondere Aura, ein Ausdruck, etwas Bedeutendes. Er glaubte, dass Aurore der Liebe schließlich doch noch erlegen war. Nach eingehenden Überlegungen war er zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei dem jungen Mann um Baptiste Armstrong handeln musste, den Sohn eines Baumwollmaklers, dessen Wurzeln in New Orleans sich einige Generationen zurückverfolgen ließen. Lucien hätte Baptiste nicht unbedingt als Kandidaten in Betracht gezogen. Der junge Mann lebte von der Großzügigkeit seines Vaters und wagte nur ab und zu einmal einen Vorstoß in die Geschäftswelt. Doch mit seiner makellosen Herkunft war er akzeptabel. Lucien hatte vor, an diesem Abend mit Charles Armstrong zu sprechen. Gemeinsam, so hoffte er, konnten die beiden Baptiste so kontrollieren und formen, dass aus ihm der Schwiegersohn wurde, den Lucien sich immer erträumt hatte.
Natürlich bestand die Möglichkeit, dass Baptiste nicht Aurores Herzbube war. Lucien hatte Aurore ausgefragt und sie in den vergangenen Wochen aufmerksam beobachtet. Aber sie war klug und verschwiegen, und obwohl es ihn ärgerte, dass sie ihm ihre Wahl nicht anvertraut hatte, hatte er widerwillig doch eine gewisse Bewunderung für sie entwickelt. Durch den Klatsch von Claires alten Freundinnen war er auf Baptiste gekommen, also bestand noch immer die Chance, dass Aurore ihn überraschte.
Er ertappte sich dabei, dass er sich auf den Abend freute. „Monsieur Le Danois?“
Er drehte sich um und runzelte die Stirn. Er hatte nicht damit gerechnet, Fantome noch mal wiederzusehen, ehe er in die Kutsche einstieg.
„Monsieur Terrebonne ist hier. Er sagt, er müsse mit Ihnen sprechen.“
Lucien zog seine Taschenuhr hervor und sah nach, wie spät es war. Das Büfett sollte bald eröffnet werden. „Bring ihn rein. Und beeil dich.“
Étienne betrat das Zimmer. Er hielt seinen Hut in der Hand. Lucien nickte knapp. Seine Uhr hielt er weiter in der Hand.
„Verzeihen Sie“, sagte Étienne. „Aber Sie wissen, dass ich nicht hierhergekommen wäre, wenn es sich nicht um einen Notfall handeln würde.“Unerklärlicherweise wuchs Luciens Verärgerung immer weiter. Er suchte nach der Quelle für dieses Gefühl. Und plötzlich wurde ihm klar, dass Étienne keineswegs schuldbewusst wirkte. „Um was geht es?“
„Ich glaube, Sie sollten es sich ansehen.“
„Ich habe keine Zeit. Ich werde im Opernhaus erwartet.“ „Sir, ich glaube wirklich, dass diese Angelegenheit Vorrang hat.“
Lucien sah einen jungen Mann in den besten Jahren, einen starken, gut aussehenden Mann mit Augen, die vor Emotionen übersprudelten. Neben der Verärgerung spürte er noch etwas anderes. Er empfand ein erstes Aufflackern von Unruhe, und sein Herz schlug schneller. „Sagen Sie mir einfach, was los ist.“
„Ich muss es Ihnen zeigen. Wir müssen dazu ins Büro fahren.“
Instinktiv wusste Lucien, dass Étienne sich nicht wegschicken lassen würde. Er fühlte etwas von derselben Bewunderung, die er in den letzten Wochen auch für Aurore gehegt hatte. Ungeduldig steckte er die Uhr wieder in die Tasche. „Also gut. Aber Sie nehmen sich zu viel heraus, Terrebonne!“
„Sie werden den Grund schon verstehen“, erwiderte Étienne.
Lucien schätzte Étiennes Respekt ihm gegenüber ein und war mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Doch er hatte keine Wahl. Wenn er jetzt zum Opernhaus ging, würde er sich den ganzen Abend fragen, welches Unglück sich ankündigte. „Fantome wird uns fahren.“
„Ja, Sir.“ Étienne trat höflich zur Seite und wartete, dass Lucien vorausging. Lucien ging in den Flur. Er war sich seltsam bewusst, dass er Étienne in diesem Moment den Rücken zudrehte. Sein Herz begann schneller zu schlagen, und obwohl er sich einzureden versuchte, dass er nichts zu befürchten habe, fingen seine Hände an zu schwitzen.
Das Bürogebäude der Gulf Coast Dampfschifffahrtsgesellschaft lag schweigend und dunkel vor ihnen. Das plötzliche Aufleuchten des künstlichen Lichts verlieh ihm auch keine Wärme. Étienne beachtete weder seine Umgebung noch seinen immer schneller werdenden Pulsschlag, als er die Eingangstür hinter sich und Lucien
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