Bis zur letzten Luge
lebe so eng mit Schwarzen zusammen, Ti’Boo! Sie umgeben mich überall. Ich sehe sie auf dem Damm, ich sehe sie in meiner Küche, in meinem Kutschenschuppen, in meinem Garten. Ich sehe hellhäutige und dunkelhäutige und einige, die so hell sind, dass sie als Weiße durchgehen könnten.“
„Und einigen ist es gelungen, als weiß durchzugehen, RoRo.“ Ti’Boo wandte den Blick ab. „Es ist furchtbar, wenn ein Mann so tun muss, als wäre er etwas, das er eigentlich nicht ist. Und für eine Frau, die ihn liebt, kann es noch furchtbarer sein. Vor allem wenn Kinder im Spiel sind.“
Aurore hatte geplant, Ti’Boo von dem Kind zu erzählen, das sie erwartete. Jetzt brachte sie den Mut nicht mehr auf. „Du irrst dich! Es wäre mir aufgefallen. Meinem Vater wäre es aufgefallen!“
„Meinst du, dass es so leicht festzustellen ist? Wir haben gelernt, nur das zu sehen, was wir erwarten. Wenn uns das Unerwartete auffällt, genügt uns eine Erklärung – selbst wenn sie nicht sehr überzeugend ist. Die Menschen auf Chénière Caminada kamen von überall auf der Welt. Vielleicht waren die Grenzen dort nicht so streng gezogen. Vielleicht ist Étienne das Kind einer solchen Verbindung, einer solchen Vermischung. Du solltest es als Möglichkeit zumindest in Betracht ziehen.“
Aurore zog sich von ihrer Freundin zurück. „Nein! Ich weigere mich.“
„Du weigerst dich, was zu tun? Weigerst du dich, es in Betracht zu ziehen? Oder weigerst du dich, dich darum zu kümmern? Denn da ist ein Unterschied, n’estce pas? Bei Ersteremtust du so, als gäbe es keinen Zweifel. Bei Letzterem gibst du zu, dass es Zweifel gibt, und betrachtest die Antwort als gegenstandslos.“
„Ich dachte, du wärst meine Freundin.“
„Ich glaube, ich bin vielleicht die einzige richtige Freundin, die du hast.“
Darauf konnte Aurore nichts erwidern. Kummer stieg in ihr auf. Sie war wütend auf Ti’Boo, doch zusammen mit der Wut war das Misstrauen gekommen. Sie versuchte, die Zweifel beiseitezuschieben, aber sie blieben. Sie spürte fast die Widerspenstigkeit von Étiennes Haaren, sah die Breite seiner Wangenknochen, seiner Nase, die Tönung seiner Haut. Die Dinge, die sie am meisten an seinem Gesicht geliebt hatte, sprachen nun gegen ihn.
„Wir müssen nie wieder darüber reden“, sagte Ti’Boo leise. „Wenn es dir egal ist, dann ist es mir auch egal.“
„Ti’Boo!“ Ein Schwall französischer Wörter erklang hinter ihnen. Jules winkte und deutete flussabwärts. Er sprach so schnell und mit einem so starken Akzent, dass Aurore seinen Worten zuerst nicht folgen konnte. Dann sah sie das Leuchten am Himmel. Und beinahe im selben Moment hörte sie die Sirenen und Glocken am Fluss.
„Feuer.“ Sie verstand und wünschte sich, es wäre nicht so. Ein Brand war sehr gefürchtet. Im Hafen lag die Samson, ein Feuerschiff, immer einsatzbereit auf dem Posten. Doch sobald ein Feuer ausbrach, war es schwierig, es zu löschen, ohne dass beträchtlicher Schaden entstand. Große Schiffe lagen am Grund des Flusses, waren Flammen zum Opfer gefallen, die weit weniger beeindruckend waren als diese.
Sie bemühte sich, abzuschätzen, wo das Feuer wütete. Zuerst wollte sie es nicht wahrhaben und überlegte hin und her, aber schließlich wusste sie, dass das Feuer ganz in der Nähe des Anlegers von Gulf Coast sein musste.
Sie rannte los. Hinter sich hörte sie Jules und Ti’Boo rufen;dann hörte sie ihre Schritte, als sie ihr folgten. Das Dock von Gulf Coast war ein gutes Stück entfernt, doch der Rauch schien in der Luft bereits wahrnehmbar zu sein. Sie rannte schneller. In diesem Moment vergaß sie Étienne, vergaß Ti’Boos Vermutungen. Sie konnte nur noch an Gulf Coast und ihren Vater denken.
Lucien erlaubte Fantome, ihm den Mantel über die Schultern zu legen; dann gab er dem alten Mann ein Zeichen, zu gehen, denn er wollte sich ungestört im Spiegel betrachten. „Hol die Kutsche.“
Schweigend, wie er gekommen war, zog Fantome sich nun zurück. Lucien starrte sein eigenes Spiegelbild an. In eleganter Kleidung machte er noch immer eine eindrucksvolle Figur. Und da das Wetter wieder angenehmer war, hatte sich auch sein Gesundheitszustand verbessert. Vielleicht war auch die bevorstehende Taufe der Danish Dowager der Grund dafür. Sie lag an Gulf Coasts eigenem Dock und war ein Zeugnis all dessen, was Lucien erreicht hatte. Heute Abend konnte er fast meinen, die Ärzte hätten sich geirrt.
Er achtete weiterhin sorgfältig auf seine Gesundheit.
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