Bis zur letzten Luge
Lettie Sue, falls es jemals so weit kommt.“
„Nicolette hat keine Mama. Habe ich Ihnen das schon erzählt?“
„Das haben Sie. Vor einiger Zeit.“
„Ich habe mich immer gefragt, was aus ihrer Mama geworden ist.“
Aurores Stimme zitterte nicht. „Da müssen Sie noch fragen?Eine Frau hat Glück, wenn sie ein Jahr in einem Haus wie diesem überlebt.“
„Wenn Sie das Rotlichtviertel schließen lassen, habe ich keine Arbeit mehr.“
„Ich werde Ihnen eine neue Stelle besorgen, wenn es so weit ist. Allerdings helfe ich niemandem, dem ich nicht vertrauen kann.“
„Sie können mir vertrauen.“
Aurores Freundinnen – junge Damen der Gesellschaft, die mit ihr in Ausschüssen waren und fröhlich plaudernd mit ihr auf den besten Karnevalsbällen in der Ehrenloge saßen – hätten das bezweifelt. Sie hätten gesagt, dass Lettie Sue wie alle Schwarzen sei, die nicht genug zivilisierendes weißes Blut in sich hätten, und dass ihr christliches Äußeres wohl kaum das afrikanische Herz einer Voodoopriesterin verbergen könne. Aber Aurore wusste, was Lettie Sue zu der Frau machte, die sie war, und sie wusste, wie nah sie einander waren. Hinter der Fassade waren sie Schwestern.
„Sie sollten jetzt lieber gehen. Wir haben lange genug gesprochen.“ Aurore nahm den Kinderwagen und ging langsam los. „Wenn Sie mir wieder einmal etwas zu berichten haben, wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen.“
„Ja, Ma’am.“
Aurore schob den Kinderwagen den Weg entlang, der sich durch den Audubon-Park schlängelte. Sie kam oft hierher. Der Park, der sich auf dem Gelände einer ehemaligen Zuckerrohrplantage befand, war ein Gewinn für die Stadt. Und auch Aurore nutzte ihn gern. Unter den riesigen VirginiaEichen, von denen Spanisches Moos hing, fand sie Zuflucht vor der Kontrolle ihres Ehemannes und der Bediensteten, denen er Geld zahlte, damit sie sie im Auge behielten.
Erst als sie den Teich erreichte, wo sie eine Pause machen wollte, wagte sie es, sich vorsichtig umzusehen. Lettie Sue war verschwunden.
Während Hugh weiterschlief, breitete sie in der Sonne neben dem Teich eine Decke aus. Enten flogen vorbei. Eine Krähe, die mindestens genauso groß war, saß auf einem tief hängenden Zweig eines Baumes und krächzte laut, bevor sie wegflog. In weiter Ferne, aus der Richtung des Zoos, glaubte sie, das Trompeten eines Elefanten zu hören. Henry gefiel es nicht, wenn sie Hugh hierher brachte. Trotzdem war sie schon zweimal hier gewesen und würde auch weiterhin kommen. Sie wollte ihrem Sohn so viel wie möglich von der Welt zeigen – bis auf die Traurigkeit, die sie manchmal bereithielt.
Sie zog sich die Handschuhe aus. Die Aprilsonne schien warm auf ihre nackten Arme, und sie nahm den Hut ab, um auch ihr Gesicht wärmen zu lassen. Sie saß auf der Decke, bedeckte ihre Beine in der weißen Strumpfhose mit ihrem Rock und dachte über alles nach, was Lettie Sue gesagt hatte.
Seit ihrer Hochzeit mit Henry hatte sie ihre Tochter nicht einmal aus der Ferne gesehen. Sie wurde genau beobachtet. In die Basin Street zu gehen hätte Henry nur wütend gemacht. Trotz ihrer Drohung wusste Aurore, dass Henry sie, wenn er ihre Fehltritte für ernst genug hielt, damit bestrafen würde, Nicolette wehzutun. Sie musste sich also mit Lettie Sues Informationen zufriedengeben, auch wenn sie noch so dürftig waren. Wenigstens wusste sie, dass Nicolette am Leben und noch immer in New Orleans war.
Doch das reichte nicht. All das, was Lettie Sue ihr erzählt hatte, wühlte ihr Innerstes auf. Nicolette war ein schwieriges Kind – so schwierig, dass ihr Vater jeden Abend nach Hause zurückkommen musste, um sie zu bewachen.
Aurore konnte sich das lebendige, muntere Kind vorstellen, das so kurz in der Kutsche auf ihrem Schoß gesessen hatte. Nicolettes Seele konnte durch die Einsamkeit zerstört werden – wenn sie nicht schon durch die Nähe zu den bösen Dingen zerstört worden war, die in der Basin Street vor sich gingen. Was war schlimmer: ihre Tochter, allein undverängstigt, oder ihre Tochter in den Fängen der Männer, die den Magnolia Palace besuchten? Männer wie Aurores eigener Ehemann.
Allein in der Sonne, gab sie sich den Tränen hin, die Henry sie niemals weinen sah. Sie hatte geglaubt, die Geburt eines weiteren Kindes würde die Leere in ihr füllen. Wie hatte sie so dumm sein können? Wie hatte sie sich nicht denken können, dass Hugh zu haben die Wunde nur noch weiter aufreißen würde? Dass ihn aufwachsen zu sehen, dass jede
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