Bis zur letzten Luge
Sie sprach mit der Frau, die neben ihr stand. „Haben Sie mir heute etwas zu erzählen?“
„Eine oder zwei Sachen.“
Aurore griff in ihre Handtasche und zog einen gefalteten Schein heraus. Sie legte ihn auf die Decke in Hughs Kinderwagen. Seit ihrer Hochzeit musste sie sich über Geld keine Sorgen mehr machen. Der Zusammenschluss von Gulf Coast und Gerritsen Barge Lines war ein Erfolg gewesen, auch wenn ihr Zusammenschluss mit Henry sich als Fehler herausgestellt hatte.
Lettie Sue machte einen Schritt nach vorn, als wollte sie das Baby der weißen Frau bewundern, und ließ das Geld in ihrem Kleid verschwinden. „Das Geschäft läuft nicht mehr gut. Es kommen nur noch halb so viele Männer, und zwei der Huren sind weggeschickt worden. Sie arbeiten jetzt ein paar Straßen weiter in einem Bordell.“
„Warum? Wissen Sie das?“
Lettie Sue zuckte die Achseln. Vom jahrelangen Schrubben und Waschen waren ihre Schultern und Arme so kräftig wie Zypressen. Im Gegensatz dazu war ihr Hals lang und anmutig und ihr Kopf majestätisch. Sie trug einen bunten tig-non , einen kunstvoll gewickelten Schal, unter dem sich ihr Haar verbarg. „Ich weiß es nicht. Vielleicht sind die Männer es leid, für etwas zu bezahlen, das sie auch umsonst kriegenwürden, wenn sie etwas netter zu ihren Frauen wären.“
„Oder wenn sie sie heftig genug bedrohen oder ihnen wehtun.“ Aurore starrte ihren Sohn an.
„Ma’am?“
„Was ist Ihnen noch aufgefallen, Lettie Sue?“
„Wollen Sie etwas über Mr Rafe hören?“
Aurore beugte sich vor, um Hughs Decke glatt zu streichen. Er lächelte im Schlaf, doch ihre Miene blieb ungerührt. „Ja.“
„Er ist nicht oft da. Die Mädchen sagen das auch. Mr Rafe verschweigt vieles, und den Mädchen gefällt das nicht. Wenn ein Mädchen krank wird oder ein bisschen überdreht, schickt Mr Rafe sie fort.“
„Wohin geht er immer?“
„Weiß ich nicht. Er kommt aber meistens nachts nach Hause. Früher nicht, jetzt allerdings schon. Sein kleines Mädchen ist ein freches Kind.“
Aurore dachte über Lettie Sues Worte nach. Henry wusste nicht, dass Aurore sich über Rafes Aktivitäten informieren ließ. Doch obwohl sie ein neues Zuhause und ein Baby hatte, musste sie noch immer ständig an Nicolette denken. Sie hatte Lettie Sue ausfindig gemacht, die im Magnolia Palace den Haushalt führte, und sie bezahlte sie gut, damit sie ihr Informationen über alles brachte, was in dem Haus vor sich ging.
Lettie Sue war sehr arm und viel zu scharfsinnig, um die perfekte Quelle zu sein. Aurore wusste, dass sie nicht mehr als beiläufiges Interesse an Neuigkeiten über Nicolette zeigen durfte, weil Lettie Sue sonst möglicherweise Rückschlüsse darüber ziehen konnte, warum sie so neugierig war.
Sie riskierte eine Frage. „Ärger? Was meinen Sie?“
„Sie macht, was sie will. Geht hierhin. Geht dahin. Letzte Woche fand ich sie im Salon, als sie sich unter einer Tischdecke versteckt hat, damit sie Professor Clarence beim Klavierspielen zuhören konnte. Mr Rafe sperrt sie seitdem jedenAbend in ihr Zimmer ein.“
Aurore wagte nicht, etwas zu erwidern. Sie blickte Hugh an und zwang sich, keine Emotionen zu zeigen. „Noch etwas Interessantes?“
„Warum wollen Sie das alles wissen, Mrs Gerritsen?“
In den Monaten, die Lettie Sue ihr nun schon Bericht erstattete, hatte Aurore auf diese Frage gewartet. Lettie Sue sah sie nicht direkt an, da jede weiße Frau das als aufsässig empfunden hätte, aber in ihrer Stimme hatte ein herausfordernder Ton mitgeschwungen.
„Ich werde nicht lügen“, entgegnete Aurore. „Ich will, dass das Rotlichtviertel verschwindet. Viele andere Frauen in New Orleans sind da meiner Meinung. Es wird auch verschwinden, es ist nur eine Frage der Zeit. Sie können ebenso gut jetzt viel Geld damit verdienen, Fragen zu beantworten.“
„Was haben Informationen über Mr Rafe mit dem Verschwinden des Rotlichtviertels zu tun?“
„Je mehr wir darüber wissen, was in den Häusern passiert, desto schneller wird sich unser Wunsch erfüllen.“
„Mr Rafe würde es nicht gefallen, wenn er wüsste, dass Sie Fragen über ihn stellen.“
Aurore verstand Lettie Sue und wünschte sich, sie könnte ihr das auch sagen. Sie wusste, wie es war, abzuwägen, wie viel Risiko man für ein Stück Sicherheit eingehen wollte. „Nein. Und es würde ihm noch weniger gefallen, wenn er wüsste, dass Sie meine Fragen beantwortet haben. Ich bin mir sicher, dass er wissen wird, dass Sie es waren,
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