Bis zur letzten Luge
willst?“
Er wollte ihr sagen, dass er Nicolettes Mutter so sehr hasste, aber etwas in seinem Innern weigerte sich. Also schwieg er.
„Sie hat so wenig. Du hast ihr fast nichts gegeben. Keine Mutter, die sie liebt, kein Zuhause, wo sie sicher und behütet ist. Nichts von dir selbst. Hast du nichts in dir, das du unserer Tochter gern geben würdest?“
„Wie kannst du das fragen? Hast du vergessen, wer ich bin und was ich getan habe?“
„Sie ist so wunderschön. Du weißt, dass ich sie gesehen habe. Weißt du, dass sie auf meinem Schoß saß? Nur für einen Moment.“ Ihre Stimme stockte. Sie starrte auf einen Punkt hinter seiner Schulter, als könnte sie seinen Blick nicht erwidern. „Sie sieht aus wie du. Aber es ist auch etwas von mir in ihr.“
„Wie unangenehm für dich! Das könnte es schwierig machen, sie wieder zu verleugnen, wenn die Möglichkeit sich ergibt.“
„Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich sie nehmen und davonlaufen!“
„Du hattest die Möglichkeit.“
„Und ich werde für immer dafür bezahlen … dass ich diese Chance nicht ergriffen habe.“
„Für dich ist sie tot. Versuche nicht, sie wiederzusehen, und bezahle niemanden, damit er dir deine Fragen beantwortet. Wenn du nicht möchtest, dass Nicolette erfährt, dass ihre Mutter sie weggegeben hat, weil sie nicht gut genug war, um sie zu behalten, solltest du dich von ihr fernhalten.“
Gequält schloss sie die Augen. „Wie kannst du nur? Egal, wie sehr du mich auch hasst, wie kannst du nur mit dem Gedanken spielen, ihr so wehzutun?“
„Es ist die Wahrheit.“
„Ein Teil der Wahrheit, und ich hasse mich dafür.“ Sie schlug die Augen auf. Tränen schimmerten in ihnen. „Du bist alles, was sie noch hat. Kannst du nicht aufhören, mir wehtun zu wollen? Was soll aus unserer Tochter werden? Ich weiß genauso viel über sie wie du. Ich habe herumspioniert und gelogen, um das alles herauszufinden. Aber mit dir lebt sie zusammen, und du weißt kaum etwas über sie!“
„Ich weiß, dass sie ihrer Mutter viel zu ähnlich ist.“
Sie rang nach Luft. „Nein! Sie ist ein wundervolles kleines Mädchen, voller Temperament und Lachen und Musik, und du sperrst sie ein wie ein Tier! Kennst du ihre Träume? Ist es dir denn egal, dass sie in der verkommensten Gegend der ganzen Stadt leben muss? Dass sie in dem Glauben aufwächst, dass Huren und die Männer, die zu ihnen kommen, normal sind?“
Er stieß sich von dem Baum ab und drehte sich um. Er hatte alles gesagt. Er wollte den Weg zurückgehen, den er gekommen war, doch ihre Worte verfolgten ihn.
„Wie lange wird es dauern, bis sie sich selbst verkauft, Rafe? Und wieso sollte sie nicht? Es gibt niemanden, der sie liebt! Sie weiß nicht, wie es ist, eine Mutter oder einen Vater zu haben, die sie liebevoll in die Arme schließen! Sie wird bei dem ersten Mann, der sie nett anlächelt, danach suchen – genau wie ich! Sie verdient etwas Besseres!“
Er konnte hören, dass sie schluchzte. Das Baby fing ebenfalls an zu wimmern, weil es die Traurigkeit seiner Mutter spürte.
„Wie kannst du sie nur so hassen?“, fragte sie weinend. „Wie kannst du nur?“
Er konnte ihre Fragen noch hören, als er schon einen Kilometer von ihr entfernt war. Obwohl er schneller ging und die Straßenbahn nicht beachtete, die neben ihm vorbeidonnerte, ließen ihre Fragen ihn nicht los.
Er hasste Nicolette nicht, auch wenn er ihre Mutter hasste.
Er sorgte dafür, dass seine Tochter genug zu essen und einen warmen Platz zum Schlafen hatte. Er hielt sie von der schlimmsten Sittenlosigkeit im Magnolia Palace fern. Und als Besitzer achtete er darauf, dass das Haus so sauber und sicher war wie jedes andere in der Basin Street. Er hatte mehr für sie getan, als ihre Mutter bereit gewesen war zu tun. Zumindest tat er nicht so, als wäre sie das Kind von jemand anders.
Aber er gab ihr nichts von sich, hatte es auch nie getan. Aurores letzte Worte verfolgten ihn. Das Bild seiner Tochter, die in den Armen eines Fremden nach Liebe suchte, verfolgte ihn.
Die Nachmittagssonne stand hoch am Himmel, als er die Basin Street erreichte. Der Duft von Süßen Duftblüten und das Geklimper auf einem verstimmten Piano am Ende des Häuserblocks stürmten auf ihn ein. Er kam an einem Haus vorbei, auf dessen Eingangstreppe drei gähnende Bewohnerinnen saßen. Eine der Frauen rief nach ihm.
Am Magnolia Palace angekommen, hörte er Kinderstimmen hinter dem Haus. Leise ging er um das Haus herum und achtete darauf,
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