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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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Erinnerung verfolgte sie ständig, seit Phillip sie nach seiner Herkunft gefragt hatte. Es hatte Nicky nicht sonderlich erstaunt, dass ihr Sohn wissen wollte, wer er war und woher er kam. Sie war ihm eine gute Mutter gewesen; auch heute bedauerte sie keine der Entscheidungen, die sie getroffen hatte. Sie hatte ihren Sohn stets mit Liebe überschüttet. Sie konnte Phillip nicht ansehen, ohne stolz auf ihn zu sein – oder ohne sich zu wünschen, dass ihr und Jake gemeinsame Kinder vergönnt gewesen wären.
    Doch in einem Punkt hatte sie ihren Sohn enttäuscht: Sie hatte ihm nie von dem Mann erzählt, dem er so ähnlich war. Und sie hatte es ihm verschwiegen, weil ihr der Tod ihres Vaters auch nach all den Jahren sehr naheging. Die Erinnerung daran riss jedes Mal von Neuem die alten Wunden auf. Der Schmerz darüber war vertraut und frisch zugleich. Sie hatte verhindern wollen, dass Phillip genauso darunter zu leiden hatte.
    Jetzt erkannte sie, dass das ein Fehler gewesen war.
    „Ich habe gute Gründe, danach zu fragen“, erklärte Phillip gerade. Er saß ihr im Apartment über dem Club Valentine gegenüber. Die Wohnung diente als Büro, und ab und zu wurden hier Gastkünstler von außerhalb untergebracht.
    Nicky dachte, sie würde die Gründe kennen, weshalb Phillip mehr über seine Wurzeln wissen wollte. Phillip war sich schon immer sehr sicher darin gewesen, was er im Leben wollte. Selbst im schwierigen Teenageralter hatte er seine Ziele nie aus den Augen verloren. Er hatte in dieser Zeit nur noch mehr an Selbstbewusstsein gewonnen. Phillip sah stets nach vorn – nicht ins Innere. Aber nun hatte er auf seinem Weg offenbar eine Gabelung erreicht.
    „Hast du dich schon mit Belinda getroffen, seit du zurück bist?“, erkundigte sie sich.
    „Nein“, erwiderte er knapp und klang, als würde ihn das eine Wort schmerzen.
    „Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit du mit ihr hier warst. Vielleicht nutzt sie die Ferien zu Mardi Gras, um Verwandte zu besuchen.“
    Phillip erhob sich und lief auf dem schmalen Teppich vor dem Sofa auf und ab. „Wir sind nicht gerade im Guten auseinandergegangen.“
    „Das lässt sich bestimmt wieder einrenken.“
    „Was habe ich ihr schon zu bieten?“ Er blieb direkt vor ihr stehen. Die Hände hatte er tief in die Taschen seiner dunklen Hose geschoben. „Die ganze Welt löst sich in Rauch auf, und ich habe keine Ahnung, was am Ende davon übrig bleibt. Gerade ist Malcolm X ermordet worden! Der Norden von Vietnam wird von uns bombardiert, und dieser Krieg wird mit Sicherheit noch viel schlimmer werden! Nächste Woche soll von Selma aus ein Protestmarsch der Bürgerrechtsbewegung stattfinden, und schon jetzt diskutieren die Leute darüber, was passiert, wenn es dabei zu Ausschreitungen kommt.
    Nicht falls , sondern wenn ! In was für einer Welt leben wir eigentlich? Wie soll ich mich irgendwo niederlassen und mir mit Belinda ein Leben aufbauen, wenn überall das Chaos herrscht?“
    „Du musst gar nichts tun. Nur das, was dir richtig erscheint. Aber warte nicht mit deinen Entscheidungen, bis die Welt ein sicherer und gemütlicher Ort wird, Phillip. Denn das wird niemals passieren.“
    „Schau dich doch an! Du kannst nicht einmal über deine Kindheit sprechen. Deine Erinnerungen sind anscheinend so schmerzhaft, dass du sie tief in deinem Innern vergraben hast. In was für eine Welt bist du geboren worden? In was für eine Welt würde mein Kind geboren werden?“
    „Ja, schau mich an.“ Auch sie richtete sich auf. „Was siehst du? Jemanden, der gelitten hat? So ist nun mal das Leben. Jemanden, der seine Erinnerungen lieber nicht ausgräbt? Auch das ist nun mal das Leben. Aber wie wäre es, wenn du jemanden siehst, der trotz allem ausgehalten und ein gutes Leben geführt hat?“
    Er lächelte nicht. „Damit wärst du eine von wenigen.“ „Ich habe dir nichts von meiner Kindheit erzählt, und das war falsch von mir. Manche Wunden schmerzen ewig, auch wenn sie verheilt zu sein scheinen. Selbst in meinem Alter ist es der leichtere Weg, sich einige Dinge nicht ins Gedächtnis zu rufen.“
    „Es tut mir leid. Ich hätte nicht fragen sollen.“
    „Komm, setz dich zu mir.“ Sie ließ sich auf das Sofa sinken und klopfte auf den freien Platz neben sich. Genauso hatte sie es getan, als er ein kleiner Junge gewesen war. „Ich habe viel nachgedacht, seit wir uns das letzte Mal darüber unterhalten haben. Und ich möchte dir von deinem Großvater erzählen. Das wollte ich immer. Aber ich

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