Bis zur letzten Luge
Schließlich wurde es Sommer. Alles veränderte sich, und er war mittendrin.“ Sie hielt inne, hörte auf zu sprechen, hörte für einen Moment sogar auf zu atmen. Dann blickte sie Phillip an und berührte seine Wange. „Genau zu der Zeit wurde er getötet – und rettete damit mein Leben.“
Nicolette war eine echte Leseratte und wusste über die schlimmsten Folgen von Rassismus und Diskriminierung Bescheid. Als die USA 1917 in den Ersten Weltkrieg eintraten, schlug in East Saint Louis der Unmut über die Anstellung von Schwarzen in Gewalt um. Als der Aufstand beendet war, waren siebenundvierzig Menschen tot – hauptsächlich Farbige.
Der Rassenhass brodelte überall auf: Schwarze übernahmen die Arbeitsplätze von Weißen, die in den Krieg gezogen waren. Doch auch die Schwarzen blieben nicht alle in der Heimat zurück. Am Ende des Krieges kehrten viele der stolzen schwarzen Soldaten zurück – Männer, die ihrem Land gedient und ihr Leben dafür riskiert hatten. Aber ihre Rückkehr fachte die Flammen des Vorurteils weiter an. In Georgia wurde ein Schwarzer zu Tode geprügelt, weil er seine Soldatenuniform auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause getragen hatte. Im Sommer 1919 waren sowohl im Norden als auch im Süden des Landes zahlreiche Rassenunruhen ausgebrochen.
Nicolette las im Defender, einer Zeitung speziell für Schwarze in Chicago, von Lynchmorden und Aufständen.
Für sie waren das Horrorgeschichten, die sich irgendwo in weiter Ferne ereigneten. Sie interessierte sich vielmehr dafür, welcher Musiker in welchem Club der Stadt auftrat, um seine Lieder zum Besten zu geben. Bei Namen wie Keppard und Oliver, Ory und Armstrong konnte sie deren Lieder bereits in ihrem Kopf hören. Sie träumte von Nächten im Royal Gardens oder im Lincoln Gardens Café .
Clarence spielte mit einer Band im Club Dreamland . Sie hatte ihn einmal dort gesehen. Allerdings hatte sie nur so lange bleiben dürfen, bis für alle anderen die Nacht erst begonnen hatte. Eine Sängerin, die kaum älter als sie war und nicht annähernd so gut wie sie, war an ihren Tisch gekommen, hatte mit den Hüften gewackelt und für sie gesungen. Als der Song zu Ende gewesen war, wäre Nicolette ihr am liebsten durch den ganzen Raum gefolgt und hätte ihr eigenes Trinkgeld gesammelt.
Ihr Vater behauptete stets, zu wissen, was die Musik ihr bedeutete – bevor er sie jedes Mal daran erinnerte, wie viel wichtiger die Schule war. Sie mochte die Schule und war ständig in der Bibliothek zu finden, weil sie so gerne las. Aber mit der Musik war es etwas anderes. Sie spürte die Musik in sich wie ein leises Pochen, das immer lauter wurde, bis es irgendwann rausmusste. Bei jedem Atemzug konnte sie sie fühlen. Es war, als könnte sie sie schmecken, sie berühren, sie wie eine Explosion aus strahlenden Farben vor sich sehen. Manchmal verwandelten sich die Stimmen ihrer Lehrer in Lieder; manchmal verwandelten sich die Wörter auf einer Seite in Noten, und eine Geschichte erschien ihr vom langsam ansteigenden Beginn bis zum Ende wie ein leidenschaftlicher Bluessong.
Als die Temperaturen im Juli in die Höhe schnellten, verbrachte ihr Vater weniger Zeit zu Hause. Sie wusste nicht genau, wohin er ging. Doch sie wusste, dass seine Treffen etwas mit Verbesserungen für die Situation der Schwarzen zu tunhatten. Die Leute hörten zu, wenn er redete, obwohl er noch nicht lange in Chicago lebte. Viele Menschen lebten noch nicht lange dort, und manchmal schien es fast so, als wären die meisten von ihnen aus Louisiana hergezogen.
An einem Sonntagnachmittag im Juli nahmen die entspannten Sommertage ein jähes Ende.
Weil ihr Vater geschäftlich unterwegs war, verbrachte Nicolette diesen Tag bei einer neuen Freundin, die in der Nähe wohnte. Das Thermometer zeigte Rekordtemperaturen an. Bei dieser Hitze saßen sie und ihre Freundin Dolly im nahe gelegenen Park im Schatten unter einem Baum und beschwerten sich darüber, dass sie niemanden dazu überreden konnten, mit ihnen zum Schwimmen an den See zu gehen.
Am späten Nachmittag war deutlich zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Leute liefen in Gruppen vorbei und unterhielten sich aufgeregt miteinander. Irgendwo aus der Ferne war das Schrillen von Pfeifen zu hören. Doch erst als Dollys Mutter Etta kam und sie abholte, erfuhren sie, was passiert war.
Etta Slater hatte kurze Beine und keinen erkennbaren Hals. Es wirkte so, als wäre sie bei der Geburt wie der Balg eines Akkordeons zusammengedrückt worden. Sie
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