Bis zur letzten Luge
begrüßte die beiden Mädchen nicht mit dem üblichen Lächeln, obwohl sie offensichtlich erleichtert war, sie gefunden zu haben. „Wir gehen nach Hause. Sofort.“
„Warum, Mama?“, quengelte Dolly. Es war viel zu heiß, um sich zu bewegen und sich auch noch zu beeilen. Nicolette hätte ebenfalls gejammert, wenn Etta ihre Mutter gewesen wäre.
„Keine Widerworte. Komm einfach mit. Du auch, Nicolette. Los.“
Die Mädchen erhoben sich, setzten sich aber nur langsam in Bewegung. Unsanft packte Etta Dolly bei den Schultern und schüttelte sie. „Ich sagte, los! Das meinte ich auch so!“
Endlich liefen die beiden schneller. Etta ergriff beide amArm und zerrte sie durch den Park. Beim Laufen sah sie sich ständig nach beiden Seiten um. Als ihnen einige weiße Männer entgegenkamen, zog Etta die Mädchen unvermittelt mit sich hinter eine Baumgruppe. Lautlos formte sie mit den Lippen die Worte: „Seid leise!“
Spätestens jetzt war den beiden Mädchen klar, dass etwas Schlimmes passiert war. Schweigend warteten sie ab, bis die Männer vorbeigegangen waren. Dann stolperten sie weiter hinter Etta her. Unterwegs mussten sie noch einmal anhalten und sich unauffällig hinter einem Busch verbergen, als eine weitere Gruppe Männer auftauchte.
Nicolette konnte einige Teile aus dem Gespräch der Männer verstehen, doch nichts davon ergab für sie einen Sinn. Schließlich erreichten sie sicher Dollys Haus. Etta verschloss trotz der Hitze sämtliche Fenster.
„Ein Junge ist vor Kurzem am See getötet worden. Ein farbiger Junge“, erklärte Etta. „Ein paar weiße Jungen haben mit Steinen nach ihm geworfen, weil er in ihren Bereich des Sees gekommen ist. Als ob es dem Wasser irgendetwas ausmachen würde, wer darin schwimmt! Einige Leute meinen, er wäre von einem Stein getroffen worden. Andere behaupten, er wäre von seinem Floß gefallen und ertrunken, weil er Angst davor gehabt hätte, in dem verbotenen Bereich zu schwimmen. Ich weiß nicht, was davon stimmt. Aber ich weiß, dass es Ärger geben wird. Es gibt schon jetzt Ärger, wie ich gehört habe.“
„Sind die weißen Jungs ins Gefängnis gekommen?“ Nicolette glaubte fest daran, dass sie sich im Gelobten Land befand – oder zumindest in etwas Vergleichbarem. Sicherlich galt hier der Mord an einem Schwarzen als Verbrechen, selbst wenn es im Süden nicht so war.
Etta seufzte tief. „Glaubst du ernsthaft, man würde einen Weißen für den Mord an einem Schwarzen verhaften? Sie haben stattdessen einen schwarzen Mann festgenommen! Derhat ihnen nämlich gesagt, dass es ein Fehler ist, die weißen Jungen davonkommen zu lassen.“
Nicolette wünschte sich insgeheim, dass ihr Vater bei ihr wäre. Es hatte ihr Angst gemacht, als Etta sie nach Hause gezerrt hatte.
„Es ist so heiß hier drinnen, Mama“, stöhnte Dolly. „Warum müssen wir denn unbedingt alle Fenster zumachen?“
„Hört mir zu, und hört mir gut zu! Wann immer es zu solchen Problemen kommt, gibt man uns die Schuld daran.“ Während sie es aussprach, knallte sie ein weiteres Fenster zu. „Es spielt keine Rolle, wer wirklich verantwortlich ist – wir sind die Schuldigen. Deshalb müssen wir den Weißen so lange aus dem Weg gehen, bis sie genug davon haben, uns zu beschuldigen. Ich weiß genau, wovon ich rede. Bei solchen Unruhen ist dies mit Sicherheit der schlechteste Ort, weil hier nur wenige von uns wohnen. Wenn mehr von uns hier leben würden, hätten die Weißen größere Angst. Aber so wie es aussieht, gibt es mehr Weiße als Schwarze. Und deswegen denken sie sich, dass sie tun können, was sie wollen, und dass niemand sie aufhalten wird.“
„Warum sollten sie uns wehtun wollen?“
„Weil wir farbig sind. Allein das reicht ihnen als Grund.“ „Ich bin doch gar nicht so schwarz“, wandte Nicolette ein. Sie streckte die Hand aus und hielt sie neben Dollys. Dollys Haut war um einiges dunkler.
„Denkst du, dass das einen Unterschied macht? Wenn du nur ein bisschen schwarz bist, genügt denen das“, erwiderte Etta. Der scharfe Ton war jedoch aus ihrer Stimme verschwunden. Sie klang beinahe so, als würde sie weinen wollen.
„Werden sie Daddy etwas tun?“, fragte Dolly. Ihr Vater war an diesem Tag am anderen Ende der Stadt, um dort seine Mutter zu besuchen.
„Dein Daddy ist klug. Er wird dem Ganzen aus dem Weggehen und danach nach Hause kommen.“
„Ich hoffe, mein papa ist auch so klug“, sagte Nicolette. „Das hoffe ich auch“, entgegnete Etta. „Ich hoffe, er hält
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