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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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habe mir jedes Mal gesagt, dass die Zeit noch nicht reif wäre. Tja … mittlerweile ist sie überreif. Du kannst stolz auf die Menschen sein, vondenen du abstammst – selbst wenn du nicht stolz auf die Welt bist, in der sie gelebt haben.“
    Er ergriff ihre Hand und drückte sie. „Auf dich bin ich immer stolz gewesen.“
    „Irgendwann werde ich dir alles erzählen, was ich noch von den Jahren weiß, die ich als Kind hier verbracht habe – leider ist es nicht sehr viel. Aber das tue ich ein anderes Mal. Du hast mich nach Chicago gefragt.“ Sie holte tief Luft, als würde sie so bald nicht mehr die Chance dazu bekommen. „Wir sind von New Orleans nach Chicago gezogen, als ich elf war. Wenn ich von ‚uns‘ spreche, meine ich meinen Vater und mich. Ich habe meinen Vater geliebt, und du weißt ja, wie sehr ich Clarence gemocht habe. Als papa und ich damals in den Zug nach Chicago gestiegen sind, konnte ich bloß daran denken, dass ich endlich Clarence wiedersehen würde. Er war nicht mein richtiger Großvater, Phillip. Der Name meines Vaters war Cantrelle, Rafe Cantrelle, Clarence war nur ein sehr guter Freund. Er ist ein Jahr vor uns nach Norden gezogen, weil die Bezahlung dort besser war. Es schien fast so, als hätte der Jazz seine Koffer gepackt und wäre zur Zeit des Ersten Weltkriegs von New Orleans nach Chicago gegangen.“
    Sie verstummte. Eigentlich rechnete sie damit, dass Phillip ihr dazu Fragen stellen würde. Stattdessen wartete er schweigend ab und ließ ihr die Zeit.
    „Es war eine vollkommen neue Welt. Ich weiß gar nicht, wie ich dir das erklären soll … Mein Vater hatte Geld aus einigen Investitionen in New Orleans. Wir kauften ein Haus im Bezirk South Side, der außerhalb des Black Belt lag und in den immer mehr Schwarze zogen. Es gab wohl einige Schwierigkeiten deshalb – ich erinnere mich, dass von Bombenanschlägen die Rede war. Doch als wir uns dort niederließen, hatte sich die Lage beruhigt. Falls wir nicht willkommen waren, zeigte das zumindest niemand; in unserem Garten steckte niemand ein Kreuz in Brand. Es gab damals nicht viele Orte,an denen man leben durfte. Die Schwarzen teilten sich oft zu zehnt ein Apartment. Um diese Situation zu ändern, sahen sie nur eine Lösung: in die Viertel der Weißen zu ziehen. Clarence lehnte das ab. Es machte ihm nichts aus, auf engstem Raum zu wohnen; er war schließlich in den schlimmsten Slums von New Orleans aufgewachsen. Er fühlte sich im Black Belt zu Hause.“ Sie löste sich sanft aus Phillips Griff und faltete die Hände. „Ich weiß nicht, wie ich dir vermitteln soll, wie ich mich gefühlt habe … Die Atmosphäre war ganz anders dort … und damit meine ich nicht das Wetter. In New Orleans hatten mein Vater und ich nur uns. Ich passte nicht zu den Weißen, und ich passte nicht zu den Schwarzen. Ich passte nirgendwo dazu – nur zu papa.“
    „Und plötzlich gehörtest du dazu?“
    „Ich weiß nicht, ob ich wirklich dazugehörte. Doch in Chicago war es so, als wäre ein Licht angegangen. Überall war Energie zu spüren, eine ganz neue Art von Kraft. In New Orleans hatte unsere Energie in unserer Musik gesteckt. Wir wussten, dass es für unsere Lage so schnell keine Lösung gab, deswegen haben wir darüber gesungen und unseren Frust an Kornetten aus dem Leihhaus und an den Klavieren in den Bars herausgelassen. Aber oben im Norden gab es Hoffnung . In Straßenbahnen und Zügen konnte ich sitzen, wo ich wollte. Ich ging mit weißen Kindern zur Schule und grüßte die weißen Nachbarn über den Gartenzaun hinweg. Ich will nicht behaupten, dass alles perfekt war. Doch es fühlte sich wie ein guter Anfang an. Verstehst du, was ich meine?“
    „Und das ist es noch immer: ein Anfang.“
    „Mein Vater engagierte sich sofort in der Gemeinde. Es gab keine Rassentrennungsgesetze, die es ihm schwer machten, Geschäfte zu machen. Er kaufte sich bei einer Immobiliengesellschaft ein und tätigte einige Investitionen. In welchem Umfang, weiß ich nicht. Aber wir konnten gut davon leben, und wir wurden einfach akzeptiert – so wie noch niezuvor. Ich kann dir nicht sagen, was mein Vater empfand, aber ich kann dir sagen, was ich mitbekam: In den ersten Monaten, nachdem wir New Orleans verlassen hatten, wurde er immer stiller und veränderte sich mehr und mehr. Plötzlich schien er sich dazu entschlossen zu haben, die Welt verändern zu müssen.“
    „Er hatte recht damit.“
    „Das Problem war nur, dass er glaubte, er könnte das wirklich.

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