Bisduvergisst
Herz zusammendrückt. Schwer wie ein Rucksack, den sie zeit ihres Lebens nie ablegen konnte. Irma betrachtet ihre Hände. Geht zum Spiegel im Flur und sieht in ihr Gesicht. Julika. Sieht Julika ihr eigentlich ähnlich? Nein, Julika sieht aus wie Lisa, eine so schöne, junge Frau. Zart wie ein Schmetterling. Kein robustes, dunkles Lausmädel, wie Irma selbst eines war.
Ich liebe dich so, Julika, murmelt Irma, und im Spiegel sieht sie, wie ihre Lippen sich bewegen. Aber sie hört sich nicht. Sie sieht auf die Tür, weil sie denkt, warum kommt Julika nicht? Und wo ist überhaupt Lisa? Irmas Magen knurrt. Sie sieht wieder ihr Spiegelbild an. Warum sieht Julika ihr nicht ähnlich? Ist das wichtig? Irma lächelt. Sie muss dringend ihre Haare waschen. Julika hilft ihr gewöhnlich dabei. Besser, Irma wartet auf Julika.
14
Mit Cary Grant ein Bier zu trinken, gehörte zu den Erlebnissen, auf die man sich nicht vorbereiten konnte. Egal. Die Wirtschaft kannte ich schon, im ›Hofreiter‹ hatte ich meine Kasnudeln gegessen. Der Biergarten war gesteckt voll, obwohl der Regen jede Minute wieder losbrechen würde. Wir hatten uns einen Platz am Ausschank gesichert, über dem ein Blechschild mit der Aufschrift ›Schlecht gefüllte Krüge bitte nachschenken lassen‹ hing. Mein Kopf glühte, während Kreuzkamp mir von seinem schaurigen Fund am frühen Morgen berichtete.
»Sie haben einen ganz schönen Zug«, sagte er, als ich mir das zweite Dunkle bestellte.
»Ziemlich aufregender Abend.«
»Was haben Sie bei Irma gemacht?«
»Was ist ihrer Enkelin zugestoßen?«
»Journalistin?«, fragte Kreuzkamp und legte den Kopf schief.
»Hm.« Das musste für den Augenblick reichen.
»Irma hatte es nie leicht in ihrem Leben. Ich …«, Kreuzkamp sah mich an. »Leitner hat Ihnen nichts gesagt?«
»Er bestand darauf, mit Irma unter vier Augen zu sprechen.«
»Verdammt.«
»Was denn! Sind Sie traurig über Irmas Schicksal?«
»Ich wollte sie unbedingt noch interviewen!« Kreuzkamp hieb mit der Faust auf den Tisch.
»Interviewen? Wozu?« Ich traute Irma zu, einen zweiten Ghost engagiert zu haben.
»Also gut.« Seine Stirn kräuselte sich noch etwas mehr. »Aus Ihnen kriege ich ja kein Wort raus. Dann hören Sie sich eben meine Geschichte an.«
»Legen Sie los.«
Er lächelte. Ich schmolz. Zum Glück kam gerade mein Bier. In der Küche wurde ein Schnitzel geklopft.
»Ich arbeite bei der Tageszeitung, aber die Maloche dort füllt mich nicht aus. Innerlich, meine ich.« Er sah mir in die Augen.
Keine Chance, Junge, mich kriegst du nicht klein. Ich bin nämlich solide geworden, seit ich mit einem Bullen zusammen bin. Ach du Schreck. Nero. Den hatte ich noch anrufen wollen.
»Also schustere ich mir das eine oder andere private Projekt zurecht. Derzeit sammle ich Material und Zeitzeugenberichte über die Kinder des Zweiten Weltkrieges. Die Generation, die 1945 höchstens 20 Jahre alt war. Irma gehört dazu.«
»Was interessiert Sie daran?«
»Es soll eine Dokumentation werden. Bevor die letzten Zeitzeugen sterben. Klingt unterkühlt, aber bald wird es keine Menschen mehr geben, die wir fragen können, wie es in Deutschland vor 60 Jahren zuging.«
»Sie wollten Irma zu ihren Kriegserlebnissen befragen?«, erkundigte ich mich misstrauisch. Das kam ganz nah an meine Geschichte heran. Und nicht nur Journalisten, auch Geister wachten eifersüchtig über ihre Territorien.
»Klar. Irma, aber auch andere. Ich lebe noch nicht so lange in Landshut, doch die Kontakte habe ich bereits hergestellt. Finden Sie nicht auch, dass die Kriegsgeneration gerne über ihre Erlebnisse spricht? Wenn endlich mal jemand Interesse an ihren Leiden bekundet?«
»Bislang standen sie als Täter unter Generalverdacht.«
»Die Zielgruppe, die ich meine, nicht. Sie waren einfach zu jung. Erst gestern habe ich mit einem alten Landshuter gesprochen. Er war bei Kriegsende neun Jahre alt. Einen Märtyrer für die Demokratie kann man da nicht erwarten.«
Nein, das konnte man nicht. Ich schüttelte langsam den Kopf.
»Halten Sie mich für einen ewig Gestrigen?« Kreuzkamp sah mich an, nahm einen Schluck Bier und wischte sich mit einer sehr männlichen Geste den Schaum von den Lippen. »In meinem Buch wird es die Worte ›Täter‹ und ›Opfer‹ nicht geben. Ich will die persönlichen Geschichten dokumentieren. Die Vaterlosigkeit einer ganzen Generation, die verlorenen Träume, die Ängste im Luftschutzkeller, die starken Mütter, die ihren Söhnen, kaum dass die
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