Bisduvergisst
es tun würde, aber nein, die laufen raus, mitten hinein in die Gefahr, so wie wir, Lisa. Wir sind dumme Tiere. Für die Dienstpost tun wir alles. Du willst dem Führer die Haut retten und ich tue so, als wollte ich dem Führer die Haut retten.
Auf dem Bahnhof herrscht ein wahnsinniges Chaos, alle sind in Eile, drängeln, haben Angst, sind ausgelaugt, unterernährt, schwach. Sie alle haben es satt, so satt. Ihre Körper dünsten den Überdruss aus, den ständigen Hunger. Sie wollen nur essen und schlafen und in Sicherheit sein. Mehr wollen sie nicht.
Dann musst du aufs Klo.
Die Bahnhofstoiletten sind unbenutzbar. Wir suchen uns irgendeine Nische, ich stelle mich vor dir auf, knöpfe den Mantel auf, schirme dich ab, und du pinkelst, brauchst ewig, das ist andauernd so, wenn du Angst hast. Lisa, mein kleiner Hase. Mein Angsthase!
Gegen Morgen heißt es, es käme ein Zug, der nach Landshut fährt.
Wir rennen über den Bahnsteig mit unserem Postkoffer, und ich schaue dich an und frage dich lautlos, nur mit den Augen, wie es wäre, wenn wir abhauen würden. Dienstpost wegschmeißen und ab. Meine Mutter wohnt in Landshut, und deine ist bei ihr. Jedenfalls war sie das, als wir das letzte Mal von ihr gehört haben. Dort könnten wir uns verstecken. Ein oder zwei Wochen noch, länger dauert das nicht mehr. Das flüstern sich des Nachts die Katzen zu, Lisa. Die du nicht hörst, weil du nicht glaubst, dass die Katzen sich Geschichten erzählen. Aber du schüttelst nur stumm den Kopf, während wir uns in die Augen schauen. Zuviel Angst. Die hängen alle Deserteure auf. Wir in unseren albernen Uniformen, Lisa! Kann sein, dass sie auch uns aufhängen. Wer kann das wissen.
Die Menschen drängen in den Zug. Frauen, unendlich viele Frauen, junge, alte, ganz alte, solche mit Kindern, solche, die Alte stützen. Ein paar Jungen, die sie bald noch holen werden zum letzten Kampf, und alte Männer, gebeugt, mit Bartstoppeln im grauen Gesicht. Abgewrackte Soldaten. Gepäck, überall Gepäck. Rucksäcke, Kinderwagen, Koffer, Taschen. Wir stecken mittendrin.
Keine Panik, Lisa. Ich bin ja bei dir. Irgendwann ergattern wir ein Plätzchen, du setzt dich, ich sitze auf deinen Knien, und ab und zu wechseln wir.
Der Zug schleicht dahin, Vorsicht ist geboten, die Schienen sind keine Schienen mehr, sie sind Zufälle, Glücksfälle. Alle haben Angst. Bloß kein Alarm, bloß nicht rausmüssen aus dem überfüllten Zug.
Ich schlafe ein bisschen, und als ich aufwache, fahren wir in Landshut ein.
Weißt du, Lisa, es geschieht mitunter, dass die Dinge, die wir fürchten, und die wir uns in allen grauenhaften Farben ausmalen, genau so eintreten, als hätten wir sie heraufbeschworen. Und deswegen haben wir hübsch stillgehalten in der Enge des Zuges, unter den nach Schweiß und widerlichem Essen riechenden Menschen. Wir sprechen nie über unsere Ängste. Nicht darüber, wie es sein wird, wenn die Amerikaner kommen und wir dastehen in unserer RAD-Uniform. Nicht darüber, wie es sein wird, wenn Tiefflieger den Zug angreifen. Nicht darüber, was auf dieser Fahrt nach München geschehen wird. Nicht darüber, dass eine von uns nicht zurückkehren könnte ins Lager. Vielleicht nicht einmal bis zur Dienststelle in Schwabing kommt.
Wir schweigen, atmen flach, weil der Gestank im Zug unerträglich ist. Vor allem hätte ich mich gefürchtet, vor allem, Lisa, aber nicht davor, dass wir eines Tages getrennt sein könnten.
Alles hat einen wenn auch verborgenen Sinn. Das denke ich, als der Zug quietschend hält und die Menschen um uns aus ihrem Schweigen erwachen.
10
Die Türglocke zerriss die Stille. Irma brauchte ihre Ruhephasen, auch während des Erzählens. Vielleicht besaß sie ein Gefühl dafür, wann es günstig war, eine Geschichte zu unterbrechen, um die Zuhörer so richtig auf die Folter zu spannen, bis sie winselten und bettelten, die Fortsetzung hören zu dürfen.
»Es hat geläutet«, sagte ich zu Irma, die keine Anstalten machte, aufzustehen. Sie befand sich in einem Zug, auf der Fahrt nach München, kurz vor Kriegsende.
»Julika weiß das alles nicht, verstehen Sie?«, murmelte Irma.
Wieder ertönte die Türglocke.
»Frau Schwand, jemand klingelt bei Ihnen.«
Sie erhob sich und tappte barfuß zur Tür. Eine kleine, energische Frau. Ich stand auf und ging ihr nach in den Korridor.
»Ach, der Leitner Michel«, sagte Irma und lachte. »Grüß dich! Dich habe ich ja lange nicht gesehen.«
In der Tür stand ein muskulöser Mann, dessen
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