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Bisduvergisst

Bisduvergisst

Titel: Bisduvergisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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graues Haar wie Drahtwolle um den quadratischen Schädel wucherte. Er reichte Irma eine Pranke von den Ausmaßen einer russischen Uniformmütze.
    »Komm rein, Leitner«, sagte Irma und ging ihm voraus durch den Flur. »Das ist Frau Laverde. Sie ist mein Geist.«
    Der Mann zog die Augenbrauen hoch.
    »Und das ist der Leitner Michel. Hauptkommissar bei der Polizei, ein fleißiger Bursche. Sein Vater kam zum Rasieren in den Laden meines Vaters, aber mittlerweile rasieren sich die Herren ja selbst, da ist nichts mehr dran zu verdienen.«
    Leitner nickte mir zu. »Grüß Gott. Du, Irma, ich würde gern unter vier Augen mit dir sprechen.«
    »Stopp!« Irma lachte ihn keck an. »Zuerst trinkst du einen Kaffee. Willst du nicht immer Kaffee, wenn es heiß ist? Je heißer der Tag, desto heißer die Getränke?«
    Leitner sah mich hilflos an. »Schon, Irma …«
    »Dann verlieren wir keine Zeit. Frau Laverde, nehmen Sie Ihren Kaffee mit Milch und Zucker?«
    »Schwarz.«
    »Gut. Setzt euch ins Wohnzimmer.«
    Irma schritt in die Küche, so elegant auf ihren bloßen Füßen, als reihe sie sich in die Eröffnung des Wiener Opernballs ein.
    Leitner ging ins Wohnzimmer, riss ein Fenster auf und sah auf mein Aufnahmegerät, den Block, die Stifte. »Was machen Sie hier?«
    »Ich bin Ghostwriterin«, verteidigte ich zum tausendsten Mal meine Existenz. »Ich schreibe die Lebensgeschichten von Leuten auf. Frau Schwand hat mich hergebeten.«
    »Lebensgeschichte? Sie meinen, weil sie«, er senkte die Stimme zu einem Flüstern, »Alzheimer hat?« Er hustete. Sein gewaltiger Brustkorb schien bersten zu wollen.
    »Warum sind Sie hier?«, fragte ich.
    »Etwas Privates.«
    Irma kam mit einem Tablett und drei Tassen wieder. Sie hatte in alle Milch und Zucker gegeben. Leitner und ich wechselten einen Blick. Ich nahm höflichkeitshalber ein paar Schlucke und fing an, meine Habseligkeiten in die Tasche zu packen.
    »Aber, aber, Sie dürfen noch nicht gehen, Frau Laverde«, rief Irma. »Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen.«
    »Ihr Besuch möchte sich mit Ihnen unterhalten«, sagte ich und verfiel in den typisch fürsorglichen Ton, den viele Jüngere anschlugen, sobald sie mit Alten sprachen. Ich fand mich zum Kotzen. Mit Juliane würde ich so nie reden.
    »Der Leitner kann noch eine Weile warten. Weißt du, Leitner, jetzt haben wir ja bald 65 Jahre Kriegsende. Da gibt’s was zu feiern. Dass wir das überlebt haben, verstehst du? Das können wir feiern. Wenn wir sonst nichts zustande gebracht haben – wir haben überlebt. Das ist vielen nicht gelungen. Gut, wir waren keine Helden, wir haben diesen Idioten aus Braunau nicht aus dem Weg geräumt, wir haben gemacht, was die uns gesagt haben. Wie die Schafe sind wir zu den Aufmärschen getrabt. Schande über uns. Schande, Schande. Aber wir haben überlebt. Und weißt du was? Ein kleines bisschen braucht man doch, worauf man stolz sein kann.«
    »Wir sprachen gerade über Irmas Erlebnisse in den letzten Kriegstagen«, half ich aus. »Sie hat mich gebeten, daraus eine kleine Geschichte zu machen. Für ihre Enkelin Julika.«
    Leitner wurde blass und hustete, dass es ihn schüttelte.
    »Du rauchst mir ein bisschen viel, Leitner«, sagte Irma. »Was sagt denn deine Frau dazu?«
    »Wir sind geschieden, Irma.« Der Kommissar warf mir einen Blick zu.
    Ich musste grinsen.
    »Dann musst du ja noch nicht so schnell nach Hause. Dann kannst du dir ja noch eine Geschichte erzählen lassen!« Irma klatschte in die Hände. »Auf geht’s, Frau Laverde, packen Sie Ihre technischen Raffinessen wieder aus! Ich bin noch nicht am Ende.«

11
    Von Landshut haben wir uns bis München durchgeschlagen. Mit LKW, Fuhrwerken.
    München ist zerstört. Eine Ruinenstadt. Vom Bahnhof nach Schwabing findet nur noch, wer ungefähr weiß, welche Richtung er einschlagen muss. Ich erkenne die Straßen kaum wieder.
    München ist deine Heimatstadt, Lisa. Hier haben deine Eltern gelebt, aber nun ist deine Mutter in Landshut, weit weg von der Großstadt, den Bomben und der schwarzen Angst. Und dein Vater? Der ist im Irgendwo. Im Osten, wohin ihn der Führer geschickt hat. Von wo er wahrscheinlich nicht mehr wiederkommt, aber das willst du nicht hören, stimmt’s?
    Wir weinen die ganze Zeit, während wir mit unserem Postkoffer an all den Trümmern vorübergehen. Ich frage mich, woher ich die Kraft habe, meine Beine zu bewegen, Fuß vor Fuß zu setzen in meinen rissigen, staubbedeckten Schnürstiefeln. Wir gehen an einem Toten vorbei. Ein

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