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Bisduvergisst

Bisduvergisst

Titel: Bisduvergisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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Der Alte sieht uns nach, mit einem Blick, in dem etwas liegt, was ich nicht begreife. Vielleicht hat er gewusst, dass eine von uns nicht mehr lange leben wird. Kann sein. Es gibt Menschen, die fühlen so was. Ich habe keine Ahnung, warum: Der Tod kündigt sich an. Er ist behutsam, ein schüchterner, zurückhaltender Geselle. Und er hat so viel zu tun im April 1945, vergiss das nicht. Kann aber auch sein, dass er ein Mistkerl ist, dem es Spaß macht, die Leute zu holen. Du, Lisa, wir wollen nicht darüber nachdenken. Wir treten auf den Hof hinaus, da steht ein Mann mit nur einem Bein, der sich auf zwei Krücken stützt, eine Zigarette im Mundwinkel, und uns nachsieht. Das heißt, er sieht dir nach, Lisa. Er sieht auf deine langen Beine, deinen runden Po. Wie schaffst du es, trotz des Hungers noch so einen runden Po zu haben? Er sieht auf dein Haar, das in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne glänzt, das du nun mit einer Handbewegung tanzen lässt, ganz lässig. Gib zu, du hast ihm zugelächelt. Sogar dem Krüppel zugelächelt, weil kein anderer da ist, der dich bewundert. Wie gerne würden wir flirten. Aber noch lieber würden wir essen, und es gibt nichts zu essen, der Hunger zerfleischt beinahe meinen Magen. Du hakst dich bei mir unter, als kämen wir vom Tanz, und ich spüre, wie dein Schritt stolz und sehr weiblich wird. Ja, Lisa, mich kannst du nicht täuschen.
    Wir kämpfen uns zurück in die Ludwigstraße, es wird dämmrig.
    Die Sirene heult los.

Samstag, 27.6.09
    Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten,
      noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt,
    nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag.
    Fallen auch tausend zu deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es doch dich nicht treffen.
    Aus Psalm 91

17
    Ich schaltete mein Aufnahmegerät aus und lehnte mich zurück. 3 Uhr nachts. Mein Leben war ein einsamer Stern, umkreist von Irma, Nero, Kreuzkamp-Grant und dem hustenden Kommissar Leitner. Ich hatte Landshut fluchtartig verlassen, war in meine Kartause zurückgekehrt, konnte nicht schlafen und saß mit einem Glas Merlot in meiner Küche. Alle Fenster standen offen. Die kühle Luft strich durch mein Haar. Ich dachte an Irmas mit Notizen beschrifteten Unterarm. Wie sicher konnte ich sein, dass ihr Bericht über die letzten Kriegswochen der Wahrheit entsprach? Oder doch nur eine Fantasiegeschichte war? Irma kam mir extrem fahrig vor, seit sie vom Tod ihrer Enkelin erfahren hatte. Sie schien die schreckliche Nachricht gar nicht an sich herangelassen zu haben.
    Ob ihre Geschichte erinnert oder erfunden war – im Grunde spielte es keine Rolle. Sie bezahlte mich dafür, dass ich genau diese Story aufschrieb, also bekam sie, was sie haben wollte. Aber persönlich faszinierte mich die Dunkelheit des Vergessens, die sie einzuhüllen begann. Vergaßen Alzheimer-Patienten tatsächlich ihr ganzes Leben? Was blieb dann von ihnen? Wie lange würde sich Irma noch dessen bewusst sein, dass etwas mit ihrem Gedächtnis nicht stimmte? Wie viele Erinnerungen mochten ihr bereits fehlen? In meinem Leben gab es keine Lücken. Ich konnte mich an alles glasklar erinnern.
    »Quatschkopf«, sagte ich zu mir selbst. »Auch du erinnerst dich nicht an alles.«
    Nein, ich war kein Speicher, kein Rechner, der sämtliche Daten auf seiner Platte wieder abrufen konnte. Jede Erinnerung war eine Täuschung, ein Konstrukt, ein Plot und in diesem Sinne eine Geschichte.
    Ich holte meinen Laptop aus dem Arbeitszimmer, richtete mich auf meinem Küchensofa häuslich ein, schenkte Wein nach und begann zu schreiben.

18
    Nero rief gerne früh vor der Arbeit an. Dies tat er auch am Samstagmorgen. Samstags arbeitete er selbstverständlich auch, wenn Not am Mann war und die Welt der Kriminaler seiner bedurfte. Meine Hand tastete nach dem Telefon auf dem Bettvorleger.
    »Hallo?«, krächzte ich.
    »Habe ich dich geweckt?«
    »Ich bin gerade erst eingeschlafen.«
    »Entschuldige. Du wirst es nicht glauben. Ich war gestern auch in Landshut.«
    »Ach!« Ich richtete mich auf. Vor meiner Nase baumelte ein Haiku von Onitsura, das ich erst vor Kurzem auf Architektenpapier getuscht hatte: Mit Kormoranen / taucht meine Seele unter / und auf im Wasser. Ich liebte die japanischen Dreizeiler und klammerte die Papierfähnchen mit meinen Lieblingsversen an die Wäscheleine über meinem Bett. Unbeholfen schob ich den Bogen beiseite und fragte: »Ist es wegen dem Mord? An der jungen

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