Bisduvergisst
endlich, Kollege«, zog Leitner ihn auf. »Hilft ja alles nichts.«
»Irma war bei meiner Mutter zu Besuch. Meine Mutter«, Yoo Lim lächelte Nero an, »ist auch im Besetzungsausschuss für die Landshuter Hochzeit. Jedenfalls, meine Mutter hat Fotos von früheren Hochzeitern an der Wand hängen. Sie sammelt sie alle. Braut und Bräutigam zu sein ist eine besondere Ehre, wissen Sie. Das Hochzeitspaar darzustellen, ist echten Landshutern vorbehalten. Geburtsbonus. Die beiden müssen durch eine harte Schule. Die Proben fressen eine Menge Zeit, tanzen, sogar reiten müssen sie können. Irma betrachtete die ganze Ahnengalerie der Hochzeiter, beugte sich schließlich über ein Bild, das vor zwölf Jahren geschossen wurde und Georg den Reichen zeigt. Darauf fragte Irma: ›Ist das nicht der alte Adenauer?‹«
Nero, der sich gerade die erste Gabel Forelle in den Mund hatte schieben wollen, hielt inne.
»Übel, was?«, sagte Leitner. »Aber so ist das Leben. Irgendwie muss man durch.« Er hatte seine Haxe bereits verschlungen. »Also, die Katzenbacherin kümmert sich um alles, was mit Julika zu tun hat, und ich werde versuchen, noch einmal mit Irma zu sprechen. Aber ehrlich gesagt, von ihr ist nicht viel Hilfe zu erwarten. Was auch immer sie uns sagt, wir können nicht davon ausgehen, dass es der Wahrheit entspricht.«
Was ist Wahrheit, dachte Nero und kaute auf seiner Forelle herum. Und vor allem: Wer glaubt einem schon die Wahrheit. Der Fisch schmeckte nach nichts. Nero legte die Gabel weg.
»Haben wir Ihnen den Appetit versaut?«, kommentierte Yoo Lim spöttisch. Nero fragte sich, welche Geschichte diese asiatische Landshuterin mitbrachte. Adoptivkind? Eingewandert? Ausgesetzt?
»Sie müssen für uns die Ermittlungen in der digitalen Welt strukturieren«, fuhr die junge Kollegin fort. »Alle digitalen Bewegungen von Herbert Neugruber verfolgen, und wir brauchen Informationen, welche Gruppen oder Einzelpersonen ähnliche Programme zusammengeschustert haben wie das, das wir bei Julika gefunden haben.«
»Hat mein Kollege, Markus Freiflug, Ihnen die passenden Infos noch nicht gemailt?« Nero fühlte sich müde, so müde.
»Doch, aber die waren so ausführlich, dass wir erst einmal einen Überblick gewinnen müssen. Ich habe einige Sachen angemerkt, die mir wichtig erschienen, aber ehrlich gesagt, bei der Fülle an Material …«
Sie erwartet, von mir etwas zu lernen, dachte Nero. Kluges Mädchen. Ihre Karriere wird sie machen. Wenn sie kein Kind kriegt. So ist das heutzutage. Vor allem bei der Polizei. Entweder das eine oder das andere.
Er selbst hätte alles für eine Familie gegeben. Die ganze Karriere sofort abgebrochen. Von seinen Ersparnissen oder Aushilfsjobs gelebt. Von Jahr zu Jahr bedeutete ihm sein Beruf weniger. Die idealistische Vorstellung, als Kriminaler Gut und Böse voneinander scheiden zu können, die Tabus hinter den Verbrechen zu begreifen, hatte er längst zu den Akten gelegt. Seine Zunft mühte sich damit ab, die Ordnung wenigstens oberflächlich zu erhalten, damit das gesellschaftliche Leben nicht vollkommen aus dem Ruder lief. Mehr war nicht zu schaffen.
»Was wollte eigentlich der Reporter von Ihnen?«, wandte Nero sich an Leitner.
»Der Vogel! Will in Julikas Wohnung, weil die angeblich Unterlagen von ihm hat. Übrigens: Elizabeth Cohen, Julikas Mutter, kommt in zwei Tagen nach Landshut. Bis dahin müssen wir etwas vorzuweisen haben«, sagte Leitner. »Irma kann ihre Enkelin vielleicht identifizieren, aber Sie wissen ja … und ich will ihr das auf keinen Fall zumuten. Die Medien bringen morgen einen Aufruf an mögliche Zeugen, sich bei uns zu melden. Am besten schaffen wir heute noch so viel wie möglich weg, bevor die Telefone glühen.«
22
Fliegeralarm. Der Abend bricht herein. Die Stadt ist geisterhaft still, nur die Sirene heult.
Deine Augen sehen mich an. Ich soll sagen, wohin, richtig, Lisa? Mich auf die neue Lage einstellen, in Sekunden. Ich nehme deine Hand und wir laufen die Straße entlang. Irgendwo muss ein Luftschutzraum sein, aber die meisten Häuser sind zerstört und in der zunehmenden Dunkelheit sehen wir keine Hinweisschilder. Wir rennen. Ich stolpere über einen toten Hund, und du hältst mich, damit ich nicht falle. Weiter. Die Sirene jagt uns. Hörst du auch das Brummen der Flugzeuge, Lisa? Mir zittern die Knie. Nicht sterben. Ich habe mir fest vorgenommen, zu überleben. Neben mir höre ich dich murmeln. Betest du, Lisa, während wir über die dunkle Straße
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