Bis(s) 1 - Bis(s) zum Morgengrauen
hinter uns stand. Ich zuckte zusammen – ich hatte ihn nicht kommen hören. Edward drückte meine Hand.
»Willst du lieber erzählen?«, fragte Edward. Ich wandte mich halb zu Carlisle um.
Er schaute mich an und lächelte. »Ich würde ja gern«, erwiderte er und richtete dann seinen Blick auf Edward. »Aber ich bin ein bisschen spät dran. Heute früh kam ein Anruf aus dem Krankenhaus – Dr. Snow hat sich für den Tag krankgemeldet. Und außerdem«, fügte er grinsend hinzu, »kennst du die Geschichte so gut wie ich.«
Eine wahrlich seltsame Mischung von Gesprächsthemen: die alltäglichen Belange eines Kleinstadtarztes und Jugenderinnerungen an das 17 . Jahrhundert.
Kaum weniger verstörend war das Wissen, dass sie nur mir zuliebe laut sprachen.
Carlisle lächelte mir noch einmal herzlich zu, dann verließ er das Zimmer.
Ich betrachtete das kleine Bild von Carlisles Geburtsstadt.
»Was geschah dann?«, fragte ich nach einer Weile und blickte Edward an. »Als er wusste, was mit ihm passiert war?«
Edward wandte sich wieder den Bildern zu, und ich folgte seinem Blick zu einem etwas größeren Landschaftsgemälde mit trüben, herbstlichen Farben; es zeigte eine schattige Wiese umgeben von Wald, mit einem zerklüfteten Berggipfel in der Ferne.
»Als ihm klarwurde, was er geworden war«, sagte Edward leise, »begehrte er dagegen auf. Er versuchte sich zu töten, doch das ist alles andere als einfach.«
»Wie hat er denn …?« Bevor ich sie zurückhalten konnte, platzte ich mit der Frage heraus.
»Er stürzte sich von Häusern und Brücken«, sagte Edward nüchtern. »Und er versuchte sich im Meer zu ertränken. Doch sein neues Leben war gerade erst in ihm erwacht und er war sehr stark. Es ist fast nicht zu glauben, dass er schaffte, seinem Durst zu widerstehen, obwohl die Verwandlung erst so kurz zurücklag. Am Anfang ist der Instinkt am stärksten, er drängt alle anderen Impulse in den Hintergrund. Carlisle jedoch war so angewidert von seinem Verlangen, dass er sogar die Kraft für den Versuch aufbrachte, sich zu Tode zu hungern.«
»Geht das?«, fragte ich mit schwacher Stimme.
»Nein. Es gibt nur sehr wenige Methoden, einen von uns zu töten.«
Die nächste Frage lag mir schon auf der Zunge, doch Edward sprach weiter und ließ mir keine Gelegenheit, sie zu stellen.
»Er wurde also immer hungriger und schwächer und hielt sich von Menschen so fern wie möglich, denn mit seiner körperlichen Stärke ließ auch seine Willenskraft nach. Monatelang durchstreifte er die Nacht und verkroch sich an den einsamsten Orten. Er war erfüllt von Selbsthass.
Eines Nachts kamen Rehe an seinem Versteck vorüber. Er war so rasend vor Durst, dass er sich auf sie stürzte, ohne nachzudenken. Als er merkte, dass er wieder zu Kräften kam, wurde ihm klar, dass es einen Ausweg gab – er musste nicht zu dem grauenhaften Monster werden, das er selber so verabscheute. Und hatte er nicht in seinem alten Leben auch Wild gegessen? Im Laufe der nächsten Monate entwickelte er seine Philosophie. Er konnte existieren, ohne ein Ungeheuer zu sein; er konnte zu sich selbst zurückfinden.
In der Folge begann er, seine Zeit besser zu nutzen. Er war schon immer intelligent und wissbegierig gewesen, und jetzt stand ihm unbegrenzte Zeit zur Verfügung. Nachts las er und lernte, tagsüber machte er Pläne. Dann schwamm er nach Frankreich und …«
»Er schwamm nach Frankreich ?«
»Bella, es schwimmt andauernd jemand durch den Ärmelkanal«, erinnerte er mich geduldig.
»Klar, stimmt schon. Es klang nur irgendwie komisch in dem Zusammenhang.«
»Schwimmen ist leicht für uns –«
»Alles ist leicht für euch«, motzte ich.
Er wartete, sichtlich amüsiert.
»Ich unterbreche dich nicht mehr, versprochen.«
Er lachte grimmig in sich hinein und beendete seinen Satz. »Weil wir, genau genommen, nicht atmen.«
»Ihr –«
»Denk an dein Versprechen!« Wieder lachte er und legte mir seinen kalten Finger an die Lippen. »Willst du die Geschichte nun hören oder nicht?«
»Du kannst mir nicht so was hinwerfen und erwarten, dass ich nichts dazu sage«, brummelte ich an seinem Finger vorbei.
Dann legte er seine flache Hand an meinen Hals; mein Herz raste, doch ich dachte nicht daran, lockerzulassen.
»Ihr müsst nicht atmen ?«
Er zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht notwendig, nein. Wir atmen nur aus Gewohnheit.«
»Wie lange hältst du es aus, ohne zu atmen?«
»Unbegrenzt lange, nehm ich an; ich weiß nicht genau. Man
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