Bis(s) 1 - Bis(s) zum Morgengrauen
melancholisch, und nachdem er geendet hatte, klang die letzte Note wehmütig in der Stille nach.
»Danke schön«, sagte ich leise und merkte, dass mir Tränen in den Augen standen. Verschämt wischte ich sie weg.
Er berührte mit dem Finger meinen Augenwinkel, ließ eine übrig gebliebene Träne darüberlaufen und betrachtete sie grüblerisch. Dann führte er seinen Finger zum Mund und leckte ihn ab, aber das Ganze geschah so schnell, dass ich meiner Wahrnehmung kaum traute.
Fragend schaute ich ihn an, er erwiderte meinen Blick, und so verharrten wir, bis er schließlich lächelte.
»Was hältst du davon, wenn ich dir den Rest des Hauses zeige?«
»Keine Särge, hast du gesagt?« Der Sarkasmus konnte meine Nervosität nicht ganz verbergen.
Er lachte, und dann nahm er meine Hand und führte mich vom Podest herunter.
»Keine Särge«, versprach er.
Wir gingen die breite Wendeltreppe hoch; ich ließ meine Hand über ihr glattes Geländer streichen. Der lange Gang, auf den die Treppe führte, war mit demselben honigfarbenen Holz verkleidet, aus dem die Dielen im Erdgeschoss gefertigt waren.
»Rosalies und Emmetts Zimmer … Carlisles Büro … das Zimmer von Alice …«, erläuterte er, als wir an den Türen vorbeikamen.
Doch am Ende des Ganges unterbrach ich seine Führung: Abrupt blieb ich stehen und starrte ungläubig auf etwas, das über mir an der Wand hing. Edward sah meine verblüffte Miene und kicherte.
»Du kannst ruhig lachen«, sagte er. »Ich find’s auch komisch.«
Ich lachte nicht. Einem inneren Zwang folgend, hob ich meine Hand und streckte einen Finger aus, aber dann berührte ich es doch nicht – das große hölzerne Kreuz, dessen dunkle Patina einen auffälligen Kontrast zum helleren Untergrund der Wand bildete. Ich hätte gern gewusst, ob sich das Holz so seidig anfühlte, wie es aussah, doch ich zog ehrfurchtsvoll meine Hand zurück.
»Das sieht sehr alt aus.«
Er zuckte mit den Schultern. »Um 1630 , vielleicht etwas später.«
Ich starrte ihn an.
»Und warum habt ihr das hier hängen?«
»Aus nostalgischen Gründen. Es hat Carlisles Vater gehört.«
»Hat er Antiquitäten gesammelt?«, fragte ich überrascht.
»Nein. Das hat er selbst geschnitzt. Es hing an der Wand über der Kanzel des Pfarrhauses, in dem er gepredigt hat.«
Ich wusste nicht, wie deutlich mir die Verblüffung ins Gesicht geschrieben stand, aber vorsichtshalber schaute ich wieder auf das schlichte Kreuz. Meine schnelle Rechnung ergab: Es war über 370 Jahre alt. Das Schweigen hielt an – ich war vollauf mit dem Versuch beschäftigt, mir diese ungeheure Zeitspanne vorzustellen.
»Alles okay?« Er klang besorgt.
»Wie alt ist Carlisle?«, fragte ich leise, ohne auf seine Frage einzugehen oder meinen Blick vom Kreuz abzuwenden.
»Er hat vor kurzem seinen 362 . Geburtstag gefeiert«, sagte Edward. Ich schaute ihn an, und er sah die Fragen in meinen Augen.
»Carlisle wurde in London geboren, in den 1640 ern, nimmt er an.« Während er sprach, betrachtete er mich aufmerksam. »Damals wurden solche Daten noch nicht genau festgehalten, zumindest nicht unter einfachen Leuten. Auf jeden Fall war es kurz vor der Ära Cromwell.«
Ich war mir bewusst, dass er jede meiner Regungen unter die Lupe nahm, und ließ mir so wenig wie möglich anmerken. Es war einfacher, wenn ich erst gar nicht probierte, seine Worte für bare Münze zu nehmen.
»Er war der einzige Sohn eines anglikanischen Pfarrers. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Sein Vater war ein intoleranter Mann. Als die Protestanten an die Macht kamen, verfolgte er fanatisch Katholiken und Angehörige anderer Religionen. Außerdem glaubte er fest an das personifizierte Böse und führte Hetzjagden auf Hexen, Werwölfe … und Vampire an.« Das Wort ließ mich erstarren, was Edward sicher bemerkte; doch er fuhr ohne Unterbrechung fort.
»Sie verbrannten viele unschuldige Menschen – die wirklichen Monster waren natürlich nicht so einfach zu fangen.
Als der Pfarrer alt wurde, übertrug er die Jagd seinem folgsamen Sohn. Zunächst erwies sich Carlisle als Enttäuschung – er war weniger schnell mit Anschuldigungen bei der Hand und sah keine Dämonen, wo keine waren. Doch er war beharrlich und stellte sich besser an als sein Vater, und so entdeckte er eine Gruppe wirklicher Vampire, die verborgen in den Abwasserkanälen der Stadt lebten und nur nachts zum Jagen herauskamen. Damals, als Monster nicht nur Mythen und Legenden waren, machten das viele
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