Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis(s) 1 - Bis(s) zum Morgengrauen

Bis(s) 1 - Bis(s) zum Morgengrauen

Titel: Bis(s) 1 - Bis(s) zum Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephenie Meyer
Vom Netzwerk:
riecht nichts – das wird auf Dauer etwas unangenehm.«
    »Etwas unangenehm«, wiederholte ich.
    Ich hatte nicht auf meinen Gesichtsausdruck geachtet, doch irgendetwas daran stimmte ihn traurig. Er ließ seine Hand fallen und stand reglos da; seine Augen ruhten auf meinem Gesicht. Die Stille zog sich in die Länge. Seine Gesichtszüge waren wie aus Stein.
    »Was ist?«, flüsterte ich zaghaft und berührte sein Gesicht; der starre Ausdruck verschwand.
    Er seufzte. »Ich warte immer noch darauf, dass es passiert.«
    »Dass was passiert?«
    »Irgendwann werde ich etwas sagen oder du wirst etwas sehen, was du nicht mehr ertragen kannst. Und dann wirst du schreiend davonlaufen.« Ein Lächeln umspielte seine Lippen, doch sein Blick war voller Ernst. »Ich werde dich nicht zurückhalten, wenn das passiert. Ich wünsche mir ja, dass es passiert – dass du dich in Sicherheit bringst. Aber zugleich will ich bei dir sein. Und beides zusammen geht nicht …« Er verstummte und sah mich an. Und wartete.
    »Ich laufe nirgendwohin«, versprach ich.
    »Wir werden sehen«, sagte er lächelnd.
    Ich blickte ihn finster an. »Also weiter – Carlisle schwamm nach Frankreich.«
    Edward hielt inne, um den Faden seiner Geschichte wiederaufzunehmen. Unwillkürlich fiel sein Blick auf ein anderes Bild, das farbigste, größte; es war doppelt so breit wie die Tür, neben der es hing, und von allen am prunkvollsten gerahmt. Die Leinwand war prall gefüllt mit leuchtenden Figuren in wallenden Gewändern, die sich um hohe Säulen wanden und auf marmornen Balkonen drängten. Ich war mir nicht sicher, ob das Bild Szenen aus der griechischen Mythologie darstellte oder ob die Figuren, die über der Szenerie in den Wolken schwebten, biblischen Ursprungs waren.
    »Carlisle schwamm nach Frankreich und ging von dort aus auf Wanderschaft durch Europa und seine Universitäten. Abends und nachts studierte er – Musik, Naturwissenschaften, Medizin – und fand so seine Berufung und seinen Weg zur Buße: die Rettung von Menschenleben.« Ehrfurcht trat in Edwards Miene. »Mir fehlen die Worte, um seinen Kampf zu beschreiben – zwei Jahrhunderte mörderischer Anstrengung waren nötig, um seine Selbstbeherrschung zu perfektionieren. Heute ist er nahezu immun gegen den Geruch von menschlichem Blut und kann die Arbeit, die er liebt und die ihm seine innere Ruhe gibt, frei von Qualen ausüben …« Einige Momente lang war Edward ganz in seine Gedanken versunken, dann schien ihm plötzlich wieder einzufallen, warum wir vor den Bildern standen. Er tippte mit dem Finger auf das große Gemälde.
    »Während seines Studiums in Italien traf er andere seiner Art. Sie waren ungleich zivilisierter und gebildeter als die Ungeheuer der Londoner Unterwelt.«
    Er deutete auf eine Gruppe von vier ruhig wirkenden Figuren, die vom höchsten Balkon aus gelassen das turbulente Treiben zu ihren Füßen betrachteten. Ich schaute sie mir genauer an und lachte erschrocken auf, als ich einen von ihnen, einen goldblonden Mann, erkannte.
    »Solimena wurde stark von Carlisles Freunden beeinflusst und malte sie oft als Götter«, erklärte Edward schmunzelnd. »Das ist Aro, das dort Marcus und das Caius«, sagte er und zeigte auf die anderen drei. Zwei von ihnen hatten schwarze, einer schneeweiße Haare. »Die nächtlichen Schutzheiligen der Künstler.«
    »Was wohl aus ihnen geworden ist?«, überlegte ich laut und ließ meinen Finger andachtsvoll einen Zentimeter über der Figurengruppe auf der Leinwand schweben.
    »Soviel ich weiß, sind sie immer noch dort.« Er zuckte mit den Schultern. »So wie seit wer weiß wie vielen Jahrtausenden. Carlisle blieb nicht lange bei ihnen, ein paar Jahrzehnte nur. Er bewunderte ihre Umgangsformen und ihre Kultiviertheit, doch sie versuchten immer wieder, ihn zur Rückkehr zu seiner, wie sie es nannten, ›natürlichen Ernährung‹ zu bewegen. Sie wollten ihn überzeugen, und er sie – beides war vergeblich. Das war der Zeitpunkt, als er seine Hoffnungen auf die Neue Welt zu richten begann; er träumte davon, in Amerika Seelenverwandte zu finden. Er war damals sehr einsam.
    Lange Zeit blieb seine Suche erfolglos. Als Hexen, Werwölfe und Vampire im Bewusstsein der Menschheit immer mehr zu Figuren von Legenden und Märchen wurden, entdeckte er zwar, dass er mit ahnungslosen Menschen als ihresgleichen verkehren konnte – damals begann er auch, als praktischer Arzt zu arbeiten. Doch die Gemeinschaft, nach der er sich sehnte, blieb ihm

Weitere Kostenlose Bücher