Bis(s) 1 - Bis(s) zum Morgengrauen
wieder peinlich war.
Wir mussten nur einmal laufen, um mein ganzes Zeug nach oben zu bringen. Ich bekam das vordere Zimmer, das schon immer meins gewesen war. Der Dielenboden, die hellblauen Wände, die schräge Decke, die vergilbten Spitzengardinen an den Fenstern – das alles war Teil meiner Kindheit. Charlie hatte seit meiner Geburt genau zwei Veränderungen vorgenommen: Er hatte die Babykrippe gegen ein Bett ausgewechselt und, als ich etwas älter war, einen Schreibtisch angeschafft. Auf dem stand jetzt ein gebrauchter Computer, und über den Boden verlief ein festgetackertes Modemkabel zur nächsten Telefonbuchse. Das war eine Bedingung meiner Mutter gewesen, damit wir in Verbindung bleiben konnten. Selbst der alte Schaukelstuhl stand noch in der Ecke.
Es gab nur ein kleines Badezimmer im Haus, oben neben der Treppe, das würde ich mir mit Charlie teilen müssen. Ich versuchte, nicht zu intensiv darüber nachzudenken.
Eine von Charlies besten Eigenschaften ist, dass er einen in Ruhe lassen kann. Er zog sich zurück, damit ich ankommen und auspacken konnte, was bei meiner Mutter absolut undenkbar gewesen wäre. Es tat gut, allein zu sein, nicht lächeln und ein zufriedenes Gesicht machen zu müssen, sondern einfach nur deprimiert in den strömenden Regen da draußen zu schauen und ein paar Tränen zu zerdrücken. Um richtig zu weinen, war ich nicht in Stimmung. Das hob ich mir besser für später auf, fürs Einschlafen, wenn die Gedanken an den nächsten Tag kommen würden.
Forks High-School hatte die beängstigende Gesamtzahl von 357 Schülern – mit mir 358 ; zu Hause waren wir allein in meinem Jahrgang mehr als 700 gewesen. Alle hier waren zusammen aufgewachsen, schon ihre Großeltern kannten sich aus dem Sandkasten. Ich würde die Neue aus der großen Stadt sein, eine wandelnde Kuriosität, ein Freak.
Wenn ich wenigstens wirklich so aussehen würde wie ein Mädchen aus Phoenix, dann könnte ich daraus vielleicht Profit schlagen. Aber rein äußerlich würde ich nie irgendwo reinpassen. Eigentlich sollte ich sonnengebräunt, sportlich und blond sein – eine Volleyballspielerin oder ein Cheerleader, wie sich das gehört für eine Bewohnerin des »Valley of the Sun«.
Stattdessen hatte ich elfenbeinfarbene Haut und noch nicht mal die Ausrede blauer Augen oder roter Haare. Ich war schon immer schlank, aber nie muskulös gewesen, eher irgendwie weich – niemand würde mich für eine Athletin halten. Ich war rein motorisch einfach nicht in der Lage, Sport zu treiben, ohne mich zu demütigen und sowohl mich als auch sämtliche Umstehende zu gefährden.
Als ich meine Sachen im alten Kleiderschrank aus Kiefernholz verstaut hatte, nahm ich Zahnpasta, Shampoo und was ich sonst noch so brauchte, und ging ins Bad, um den Reisetag von meinem Körper zu waschen. Während ich meine strubbeligen feuchten Haare durchbürstete, betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. Vielleicht lag es am Licht, aber ich sah schon jetzt käsig aus, ungesund. Meine Haut war sehr rein und beinahe durchsichtig – mit ein bisschen Farbe konnte sie durchaus hübsch aussehen. Hier in Forks hatte sie keine.
Ich betrachtete mein blasses Spiegelbild und musste mir eingestehen, dass ich mir etwas vormachte. Nicht nur äußerlich würde ich nie irgendwo reinpassen. Und wenn es mir nicht gelungen war, in einer Schule mit 3000 Leuten meine Nische zu finden, wie standen dann wohl meine Chancen hier?
Ich kam nicht gut klar mit Leuten meines Alters. Und vielleicht kam ich in Wahrheit mit Leuten generell nicht gut klar. Selbst mit meiner Mutter, der ich mich näher fühlte als irgendwem sonst auf diesem Planeten, war das so – es war, als würden wir im selben Buch lesen, aber immer gerade auf verschiedenen Seiten. Manchmal fragte ich mich, ob ich mit meinen Augen dieselben Dinge sah wie der Rest der Welt. Möglicherweise funktionierte ja mein Gehirn nicht richtig.
Aber die Ursache war egal – alles, was zählte, war die Wirkung. Und der nächste Tag war erst der Anfang.
Ich schlief nicht gut in dieser Nacht, selbst nicht nachdem ich ausgiebig geweint hatte. Das unaufhörliche Rauschen des Regens und des Windes auf dem Dach wollte einfach nicht zum Hintergrundgeräusch verklingen. Ich zog mir die verschlissene alte Bettdecke über den Kopf, und später noch das Kissen, trotzdem schlief ich erst nach Mitternacht ein, als der Regen endlich nachließ und zu einem leisen Tröpfeln wurde.
Als ich am Morgen aus dem Fenster schaute, sah ich
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