Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
sehr wohl an sie erinnerte, obwohl er sie nur kurz gekannt hatte.
»Ja. Sie hieß Elizabeth. Elizabeth Masen. Sein Vater, Edward senior, kam im Krankenhaus nicht mehr zu sich. Er starb an der ersten Grippewelle. Doch Elizabeth war fast bis zum Ende bei vollem Bewusstsein. Edward ähnelt ihr sehr – ihre Haare hatten denselben eigenartigen Bronzeton, und ihre Augen waren genauso grün wie seine.«
»Er hatte grüne Augen?«, murmelte ich und versuchte es mir vorzustellen.
»Ja …« Carlisles Blick war jetzt hundert Jahre weit weg. »Elizabeth war wahnsinnig vor Sorge um ihren Sohn. Sie nahm ihre letzten Kräfte zusammen, um ihn vom Krankenbett aus zu pflegen. Ich hatte gedacht, er würde vor ihr sterben, er war so viel schlimmer dran. Doch dann ging es ganz schnell mit ihr zu Ende. Es war kurz nach Sonnenuntergang, und ich kam, um die Ärzte abzulösen, die den ganzen Tag gearbeitet hatten. In dieser Zeit fiel es mir besonders schwer, mich zu verstellen – es gab so viel zu tun, und ich hätte keine Ruhepausen gebraucht. Es war mir unerträglich, nach Hause zu gehen, mich im Dunkeln zu verstecken und so zu tun, als schliefe ich, während so viele starben.
Als Erstes sah ich nach Elizabeth und ihrem Sohn. Ich hatte sie ins Herz geschlossen – das ist immer gefährlich, wenn man bedenkt, wie zerbrechlich Menschen sind. Ich sah sofort, dass es schlecht um sie stand. Das Fieber tobte und ihr Körper war zu schwach, um noch länger zu kämpfen. Doch als sie von ihrem Bett zu mir aufschaute, sah sie gar nicht schwach aus.
› Retten Sie ihn! ‹ , befahl sie mit heiserer Stimme – mehr ließen ihre Kräfte nicht zu.
› Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht ‹ , versprach ich und nahm ihre Hand. Das Fieber war so hoch, dass sie vermutlich nicht mehr spürte, wie unnatürlich kalt die meine war. Für sie fühlte sich jetzt alles kalt an.
› Sie müssen ‹ , drängte sie und klammerte sich so fest an meine Hand, dass ich mich fragte, ob sie diese Krise nicht vielleicht doch überstehen konnte. Ihre Augen waren hart wie Stein, wie Smaragde. › Sie müssen alles tun, was in Ihrer Macht steht. Was andere nicht tun können, das müssen Sie für meinen Edward tun. ‹
Sie machte mir Angst. Sie durchbohrte mich mit ihrem Blick und einen Augenblick war ich mir sicher, dass sie mein Geheimnis durchschaut hatte. Dann übermannte das Fieber sie und sie kam nicht wieder zu Bewusstsein. Eine Stunde nach ihrer Bitte starb sie.
Jahrzehntelang hatte ich darüber nachgedacht, mir einen Gefährten zu schaffen. Nur ein einziges Wesen, das mich richtig kennen würde, nicht nur das, was ich zu sein vorgab. Doch ich konnte es nie vor mir selbst rechtfertigen – einem anderen das anzutun, was man mir angetan hatte.
Da lag Edward, und er würde sterben. Es stand außer Zweifel, dass er nur noch wenige Stunden zu leben hatte. Neben ihm seine Mutter, deren Gesicht noch nicht richtig friedlich war, selbst im Tode nicht.«
Carlisle schien alles vor sich zu sehen, das vergangene Jahrhundert hatte seine Erinnerung nicht getrübt. Auch ich sah alles deutlich vor mir, während er erzählte – die Verzweiflung im Krankenhaus, die überwältigende Gegenwart des Todes. Edward, wie er glühend vor Fieber dalag, mit jeder Sekunde wich mehr Leben aus ihm … Ich schauderte wieder und drängte die Vorstellung beiseite.
»Elizabeths Worte hallten in meinem Kopf wider. Wie konnte sie erraten, was ich vermochte? War es wirklich möglich, dass sie sich das für ihren Sohn wünschte?
Ich sah Edward an. Trotz seiner Krankheit war er immer noch schön. Sein Gesicht hatte etwas Gutes und Reines. Ein Gesicht, wie ich es mir für meinen Sohn gewünscht hätte …
Nach all den Jahren der Unschlüssigkeit handelte ich jetzt aus einem bloßen Impuls heraus. Erst fuhr ich seine Mutter ins Leichenschauhaus, dann kam ich wieder, um ihn zu holen. Niemand bemerkte, dass er noch atmete. Nicht einmal für die Hälfte der Patienten waren genug Hände und Augen da. Im Leichenschauhaus war niemand – jedenfalls kein Lebender. Ich schlich mich mit ihm zur Hintertür hinaus und trug ihn über die Dächer zu mir nach Hause.
Ich wusste nicht genau, was zu tun war. Ich entschied mich dafür, ihm dieselben Wunden beizubringen, die man mir damals, vor so vielen Jahrhunderten in London, beigebracht hatte. Im Nachhinein tat mir das leid. Es war schmerzhafter und langwieriger als nötig.
Doch ich habe es nicht bereut. Ich habe nie bereut, dass ich Edward
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