Biss sagt mehr als tausend Worte
Allerdings würde sie wohl auf den Jogginganzug und den Schluck Blut verzichten müssen.
Als sie die Stufen zur Lobby erklomm, roch sie Zigarre und Aramis, was ihr einen kalten Schauer über den Rücken schickte, bevor sie die Gefahr identifizieren konnte. Cops. Rivera und Cavuto. Rivera roch nach Aramis, Cavuto nach Zigarren. Sie bremste abrupt, sodass die Absätze ihrer Stiefel ein wenig auf den Marmorstufen schlitterten.
Da standen die beiden am Empfang. Dann führte ein Page sie zum Fahrstuhl. Er brachte sie zu Jodys Zimmer.
Woher? , dachte sie. Auch egal. Es wurde hell. Sie sah auf ihre Uhr: noch drei Minuten, um ein Versteck zu finden. Sie wich von der Tür zurück bis auf den Bürgersteig, dann rannte sie los.
Normalerweise hätte sie sich beherrscht, damit niemandem auffiel, wie schnell diese Rothaarige in Jeans und Stiefeln war, schneller als ein Sprinter bei der Olympiade, aber dann sollten sie es ihren Freunden eben erzählen und als unglaubwürdig dastehen. Sie brauchte Sonnenschutz, und zwar sofort.
Sie war anderthalb Blocks die Mason Street hinunter, als sie zu einer kleinen Gasse kam. Ihre erste Nacht als Vampir hatte sie unter einem Müllcontainer zugebracht. Vielleicht konnte sie den Tag darin verbringen. Aber leider standen
dort ein paar Leute herum, die Küchenbelegschaft eines Restaurants, draußen vor der Tür, rauchend. Sie rannte weiter.
Keine Gassen die nächsten beiden Blocks, dann eine schmale Lücke zwischen zwei Gebäuden. Vielleicht sollte sie sich hineinquetschen und in ein Kellerfenster steigen. Sie kletterte auf ein schmales Holztor und hatte schon einen Fuß am Boden, als ein Pitbull den Gang entlanggestürmt kam. Sie sprang auf den Bürgersteig zurück und rannte weiter. Was für ein Psychopath lässt seinem Hund einen halben Meter Auslauf zwischen zwei Häuserwänden? Gibt es gegen so was kein Gesetz?
Das hier war Nob Hill, weit offen, mit breiten Straßen wie Boulevards, ein ehemals prunkvolles Viertel, das für einen Vampir auf der Suche nach schützendem Dunkel unfassbar nervig war. An der Jackson Street bog sie um die Ecke und brach sich dabei den Absatz ihres rechten Stiefels ab. Sie wusste, sie hätte Turnschuhe tragen sollen, aber mit den hohen, teuren Lederstiefeln kam sie sich ein bisschen wie eine Superheldin vor. Wie sich herausstellte, tat ein verknackster Knöchel tierisch weh – auch einer Superheldin.
Sie war außer sich. Sie rannte, sie humpelte zum Jackson Square, San Franciscos ältestem Viertel, das schon das große Erdbeben von 1906 überlebt hat. Hier gab es alle möglichen Schlupfwinkel und Kellerläden in den alten Gemäuern. Im Keller eines der Häuser befand sich sogar noch das Gerippe eines Segelschiffes, ein Wrack, das überbaut worden war, als der Goldrausch so viele herrenlose Schiffe am Ufer zurückgelassen hatte, dass die Stadt buchstäblich über sie hinweggewachsen war.
Eine Minute noch. Der Schatten der Transamerica Pyramide fiel auf das Viertel wie die Nadel einer todbringenden Sonnenuhr. Jody legte einen letzten Sprint hin, wobei sie auch den anderen Absatz verlor. Sie suchte die Straße nach Fenstern und Türen ab, versuchte, Bewegungen dahinter zu erahnen, suchte Stille, Abgeschiedenheit.
Da! Auf der linken Seite, eine Tür im Souterrain, die Treppe hinter einem schmiedeeisernen Geländer versteckt, das von Jasmin überwuchert war. Nur noch zehn Schritte , dachte sie. Sie sah sich schon über das Geländer springen, mit der Schulter die Tür aufbrechen und unter dem erstbesten Ding abtauchen, das sie vor dem Licht schützen würde.
Sie machte noch drei Schritte und sprang, als die Sonne eben hinter dem Horizont hervorkam. Mitten in der Luft erschlaffte sie, stürzte auf den Bürgersteig, kurz vor der Treppe, und schlitterte ein Stück auf Schulter und Gesicht. Als ihre Augenlider flatterten, sah sie ein Paar orangefarbene Socken direkt vor sich, dann ging ihr Licht aus, und sie fing an, im Sonnenschein zu brutzeln.
12
Alchemie
Der chinesische Kräuterladen roch nach Lakritz und gedörrtem Affenarsch. Die Barbaren drängelten sich im engen Gang zwischen den Verkaufstresen, versuchten, sich hinter Troy Lees Großmutter zu verstecken, und scheiterten auf ganzer Linie. Hinter seinem Glaskasten sah der Ladenbesitzer noch älter und gruseliger aus als Oma Lee, was bis dato niemand für möglich gehalten hätte. Es schien, als hätte man ihn aus einem Apfel geschnitzt und dann zum Trocknen hundert Jahre auf die Fensterbank
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